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Rezension zu "Das Lächeln des Tigers"

von David Quammen

 

VON DEN LETZTEN MENSCHENFRESSENDEN RAUBTIEREN DER WELT

Bärenbabys, junge Löwen und Tiger sind niedlich anzusehen: Das Kindchenschema greift über die Artschranken hinweg direkt ans Herz des Betrachters, mag er auch vor den ausgewachsenen Exemplaren mancher Art Furcht empfinden, die sich gar zum archaischen Schrecken steigern kann, ein Schrecken, von dem dieses Buch berichtet. Den Angriff eines ausgewachsenen Krokodils und seine berüchtigte Todesrolle haben nur wenige überlebt. Trotzdem: Auch Krokodilbabys sind niedlich, so der für seine Sachbücher mehrfach ausgezeichnete Autor über das australische Leistenkrokodil, das im Vergleich mit anderen bedrohten Alpharäubern wie Bär, indischer Löwe und sibirischer Tiger kaum zum Sympathieträger taugt.
David Quammen erweist ihnen allen Mitgefühl, wie überhaupt seine Sprache ihn verrät: Die Tiere kämpfen unerschrocken, mit dem Mut der Verzweiflung, aus schierer Not, in die Enge getrieben, den Nachstellungen schutzlos ausgeliefert, in ihrer Not haben sie Menschen angefallen, verzweifelt vor Hunger oder Durst. Mehrfach scheint ihm nur der Begriff Verzweiflung geeignet, die ausweglose Situation eines einzelnen Exemplars oder der ganzen Art zu kennzeichnen. Dagegen unsere raff- und mordgierige Spezies: der Mensch. Unaufhaltsam wächst seine Zahl von derzeit 6 Mrd auf prognostizierte 11 Mrd. Er ist unersättlich nach Geld und Land oder von noch Gierigeren verdrängt in die Rückzugsgebiete von Tiger und Löwe, deren Lebensraum und Beute er beansprucht. Die eigene Not macht ihn blind für fremdes Lebensrecht, und wo sich die beleidigte Kreatur wehrt, nimmt er grausam Rache, dämonisiert und vernichtet erbarmungslos.
Tiere und Natur schonende Traditionen gelten nicht mehr, der entfremdete Mensch hat die Natur im Würgegriff. Die Jagd wird zum Wüten, zum Abschlachten schließlich für den chinesischen Markt, nichts bleibt übrig von der edlen Beute, als deren Inbegriff der Tiger einst galt. 
„Knallt sie ab!“ Das meint den rumänischen Braunbären, es meint den lästig gewordenen sibirischen Tiger –und trifft letztlich uns, die wir uns außerhalb des Systems wähnen. Das begreiflich zu machen, ist Quammens Verdienst; denn der Autor erschöpft sich nicht in der Beschwörung des drohenden Verlustes und nicht darin, Überlebenskämpfe und Mühsal von Echse, Bär, Raubkatze und engagierten Naturschützern zu beschreiben.
Er stellt Fragen: Dürfen wir die Kosten zur Erhaltung der großen Räuber und ihrer Lebensräume überproportional den armen Einheimischen aufbürden? Flüchtet nicht aus der Verantwortung, wer sich aus der Distanz ästhetisch an dem schönen Raubtier vergnügt, während die Menschen vor Ort mit ihm leben müssen? Welche Welt wollen wir, und ist diese Welt, die wir aus Rasseegoismus und kurzsichtiger Profitgier schaffen, wirklich das, was wir wollen?
Immer informativ, nie langweilig schlägt er Brücken zu Mythologie und Naturwissenschaft, plaudert verständlich und anschaulich über die Elton’sche Zahlenpyramide und Lindemans Energienanalyse, beschreibt und belegt das ökologische Prinzip der Schlüsselarten und trophischen Kettenreaktionen. All denen, die Tiger & Co für verzichtbar halten - Mao Tse Dong sprach gar von Ungeziefer - sei ins Stammbuch geschrieben: Das Ausrotten der großen Beutegreifer wird weiteres unabsehbares Artensterben nach sich ziehen, zu unserem Schaden. 
Wir begreifen aber auch, dass Schutzprogramme nachhaltigen Erfolg nur erzielen können, wenn sie die Menschen vor Ort einbeziehen und zum Beispiel der lebendige Tiger für diese größeren Wert besitzt als sein Fell. Die Gorillaforscherin Dianne Fossey scheiterte hier tragisch und bezahlte ihr Versäumnis schließlich mit dem Leben. 
Anmerkung zur australischen Wissenschaftlerin Plumwood, die einen Krokodilangriff überlebte: Der Autor nennt deren Schilderung u.a. pathetisch, selbstverklärend, spricht von - zwar entschuldbarer -Prahlerei, ohne selbst je die Todesrolle erlebt zu haben, sodass wir männlichen Neid auf solch außergewöhnliche Erfahrung vermuten dürfen. Neid auf den Stil der Kollegin sollte sich ihm allerdings verbieten, da Quammen selbst stilistisch das Pfauenrad zu schlagen weiß...

I.L. Ruff

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