Rezension zu "Die Mittagsfrau"
von Julia Franck
Jedes Leben lässt unbeantwortete Fragen zurück, das Rätsel so mancher Person bleibt ungelöst. Nur Trivialromane erdreisten sich, für alle Fragen eine Antwort und alle Rätsel eine Lösung anzubieten.
So gesehen bietet die Mittagsfrau durchaus Literatur; denn die Motive für Helenes Handlungsweise sie lässt ihren siebenjährigen Sohn allein am Bahnhof einer fremden Stadt zurück lassen sich nur erahnen. Im Anfangskapitel wird mit deutlichen Hinweisen nicht gespart: Ende des 2. Weltkrieges, der Anblick verstümmelter Leichen, Vergewaltigung durch russische Soldaten, schließlich die Flucht aus Stettin, gehäuftes Unglück also und von der Krankenschwester Helene äußerlich unberührt ertragen. Im 2. Kapitel führt die Autorin zurück zur siebenjährigen Helene am Vorabend des 1. Weltkrieges, um danach stilistisch nicht gerade aufregend das Schicksal der Protagonistin über die folgenden Jahre auszubreiten. Wird diese Helene uns vertraut, womöglich liebenswert? Ich meine, so wenig wie die zwischen neurotischer Überspanntheit und Geisteskrankheit schwankende Mutter, der vergeblich liebende und elend sterbende Vater, die lesbische Schwester Martha, hinter deren gekünstelter Redeweise in den ersten Kapiteln man eher eine ältliche Tante vermutet oder eine unfähige Autorin. Alltägliche Verrichtungen werden minutiös beschrieben, die messiehafte Sammelwut der Mutter, Rückenkraulen, banale Gedanken, viel Alltagsgeschwätz. Muss uns das interessieren? Ich gebe zu, mich interessiert es nicht; und die deutsche Geschichte des 20.Jhdts wurde literarisch schon besser verarbeitet. Bei aller Genauigkeit im Einzelnen bleiben persönliche Psyche und Zeitkolorit blass. Dass Helene und Martha die geistig verwirrte Mutter über 10 Jahre nicht ein einziges Mal besuchen, macht die beiden nicht literarisch interessanter; was man an Zeitgeschichtlichem mitnehmen kann, erinnert an braven Schulfunk. Entsprechend schülerhaft trottet die Beschreibung durch die Tage, Wochen und Jahre: Ich vermisste beim Lesen den literarischen Sinn und hätte meine Zeit lieber mit besserer Lektüre genutzt.
Erst nach mehr als 200 Seiten teilweise ermüdend banaler Beschreibungstechnik und dahin plätschernder Gespräche, nämlich mit dem Auftreten von Helenes großer Liebe fasst der Roman Tritt.
Komm wir wollen uns näher verbergen...
Leitmotivische Worte aus einem Gedicht Lasker Schülers kennzeichnen nunmehr die Handlung und deren Protagonistin, die beide aus dem Schweigen hinter den Worten Kontur gewinnen. Endlich.
Carl verunglückt keine 80 Seiten später tödlich; und hinter der Beschreibung eines Besuchs bei seinen Eltern scheint all das auf, was zu sagen wäre, aber ungesagt bleibt, so wie Helene allmählich verstummt.
In der Ehe mit dem machohaften Wilhelm wird sie zur Frau ohne eigenen Willen, die nur noch funktioniert. Ihren Sohn erzieht sie so gewissenhaft, aber innerlich unbeteiligt, wie sie auch den Haushalt führt und ihrem Beruf nachgeht, und es ist nur logisch, wenn sie dem liebebedürftigen Sohn ihre Hand entzieht. Julia Franck zeichnet eine Frau, die im Laufe der Jahre alles verliert, was einen Menschen zu einem lebensbejahenden Charakter ausformen kann: Liebe, materielle und seelische Geborgenheit, sexuelle Erfüllung und körperliche Unversehrtheit, Selbstachtung. Helene reagiert auf die Zumutungen des Schicksals, indem sie sich entzieht. Der gelungene Teil des Romans, beginnend mit Carls Tod, ist die Geschichte dieses Rückzugs. Ob ihr bleibt, was man gemeinhin den unzerstörbaren Wesenskern nennt, erfährt der Leser nicht. Der Mensch ist ein Rätsel. Reicht diese Botschaft aus?