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Alles gelogen (4 + 5)

4. Kapitel

Alles fließt

Heraklit

Ägyptische Impressionen

(aufgeschrieben von Artur Schindler, also von mir! )

Vorbei eilende Landschaften unter dem Ferienflieger. Der Nil breit und gemächlich im fruchtbaren Delta, dann im schmaler werdenden grünen Saum. Zu beiden Seiten lang gestreckte Felder, handtuchbreit. Die meisten grün, dazwischen erdbraune, frisch abgeerntete oder auf den Sämann wartende Flächen. Drei Ernten soll es hier geben. Eigentlich ein für Mitteleuropäer vertrauter Anblick, wären da nicht die Palmen, die winzigen Gehöfte wie Käfer, die schmalen Bewässerungskanäle, und würde das Grün zu beiden Seiten nicht abrupt in gelbe oder graubraune Farben der Wüste übergehen. Kaum Spuren eines Übergangs. Da wird kein Quadratmeter verschenkt. Manchmal quetscht sich der Nil eng an eine Felswand, hinter der gleich die Wüste beginnt, oder mäandert durch die Ebene, dass die alten Griechen ihre Freude dran gehabt hätten. Alles fließt. Unbeweglich und wie in sich ruhend ist nur das Meer. Von weit oben wirkt es friedlich, wie die ägyptische Küste. Ob unter uns Boote mit Flüchtlingen unterwegs sind? Ich sehe nichts. Ebenso wenig die Netze am Strand, in denen sich in Frühjahr und Herbst die Singvögel zu Hunderttausenden verfangen. Dass ich sie nicht sehe, heißt nicht, dass sie nicht da sind. Weder die Boote noch die Vogelnetze. Nur der Nil und die Wüste. Gleichbleibend im Wechsel wandert der Boden unter mir, präsentiert Unterschiede in Form und Farbe und löscht sie aus. Verschwindet. Ich kann mich nicht satt sehen. Endlich haben wir uns den Traum vom Fliegen erfüllt, und was machen die meisten Flugreisenden? Sie lesen oder schlafen. Es scheint egal, was unter ihnen liegt, wie die Sonne über einem Wolkenmeer aufgeht oder der Vollmond. Oder wie schneebedeckte Gipfel über einem Meer aus Watte schwimmen.

Der Traum vom Fliegen. Wieviele Menschen vor uns haben ihn wohl geträumt? Mir fallen einige Namen ein: Karl der Große und Shakespeare, Leonardo Da Vinci und Goethe. Ob sie ihn geträumt haben? Und was hätten die Vier wohl dafür gegeben, den Traum zu leben, ihn Wirklichkeit werden zu lassen? Bei Da Vinci bin ich mir sicher. Warum sonst seine Zeichnung einer Flugmaschine?

Was soll's? Wer damals nach Ägypten wollte, musste per Schiff übers Meer und mit Barken auf dem Nil reisen. Dazu brauchte es neben einer gehörigen Portion Abenteuerlust sicher einen Batzen Geld. Mein Reiseführer schreibt interessante Dinge über einige europäische Entdecker, die Engländer Livingston und Stanley auf der Suche nach den Quellen des Nil, die Gelehrten im Tross von Napoleons Ägyptenfeldzug. 1799 haben sie den Stein von Rosette gefunden, mit dessen Hilfe Champollion später die Hieroglyphen entschlüsselte. Wow! Wahrscheinlich gönnte, wer konnte sich früher auch eine Fahrt auf dem Nil ; nicht so komfortabel wie unsre, aber der Eindruck war sicher ähnlich.

So wie jetzt: Stoisch gleiten die Ufer an unserem Schiff, der Egyptian Princess vorüber. Baujahr 1985. Für moderne Vorstellungen ist die Dame bereits in die Jahre gekommen, sagt Theo. Dafür besitze sie Stil und Würde. Für einen Nildampfer bedeutet das: viel dunkles Holz an Decken und Wänden; für Reisende Erinnerung an den legendären Orientexpress oder Agatha Christies Kriminalroman Tod auf dem Nil.

Ich fühle mich sauwohl, auch wenn wir drei die Jüngsten an Bord sind. Statt Agatha Christies Superdetektiv Hercule Poirot sitzt an Deck mir gegenüber ein Werkzeugmaschinenbauer im Ruhestand. Jetzt verreist er mit seiner Frau und bringt alle Orte durcheinander. Kommt davon, wenn einem die Reiseveranstalter die ganze Planung abnehmen. Neben mir eine ehemalige Krankenschwester. „Endlich frei von Beruf und Familie“, sagt sie. Lauter ältere Semester, aber man soll sich nicht täuschen, auch ältere Semester können ausrasten, vor allem, wenn der Wein all inclusive ist. Am orientalischen Abend schwingen selbst gesetzte Damen die Hüften und lassen Hintern und Busen nach den Anweisungen der Bauchtänzerin zittern. „Typische Mischung von gesetztem Alter und unersättlicher Lebensgier“ kann sich Theo nicht verkneifen.

Jenny: „Schaut lieber auf die Bauchtänzerin. Bei sparsamem Muskeleinsatz ein sinnliches Erlebnis der besonderen Art. Ich probiere es auch.“ Und wie sie es probiert. Nur gut, dass Erkan nicht dabei ist. Er würde pfeifen, aber dann nicht mit der Kritik hinterm Berg halten.

„Du solltest besser auf deine Mutter aufpassen, mit bloßen Armen und Bauchtanz; das gehört sich nicht für eine anständige Frau.“ Ist die ägyptischen Bauchtänzerin etwa nicht anständig? Ich weiß es nicht, aber ich habe gesehen, sie trägt ein hautfarbenes Trikot zwischen Oberteil und Rock, sodass man den Bauchnabel – übrigens mit einem Glitzerstein – nur schwach erkennen kann. Und was sagt der pensionierte Werkzeugmaschinenbauer ?„Je oller je doller“. Damit meint er natürlich die Touristinnen.

Am liebsten sehe ich dem Nil zu, wie er vorbei fließt. Während die meisten Touristenkörper träge auf dem Sonnendeck chillen oder sich am Buffet mit orientalischen Köstlichkeiten vollstopfen, öffnet sich bei mir der Geist. Das Auge sucht den vorüber ziehenden Film ins Langzeitgedächtnis zu überführen: sorgfältig bebaute Felder, die schier endlose Zahl der Palmen vor wechselndem Gesteinshintergrund, die Tiere, Wasserbüffel und Esel, immer wieder der strahlend weiße Ibis, ein wahrer Märchenvogel. Schließlich die Behausungen der Fellachen, die meisten verwittert, dazwischen bonbonfarben getünchte Wände, die von besseren Zeiten erzählen. Häuser seit Tausenden von Jahren aus Lehmziegeln gebaut, mit Mauern um die Innenhöfe. Davor spielen Kleinkinder, eifrig werken die Größeren. Kein hochgewachsener Menschenschlag: Hitze und schwere Arbeit hemmen das Höhenwachstum. Ich sehe Fellachen in den typischen knöchellangen Gewändern, den Dschalabas, beim Pflanzen und Säen. Auch vereinzelt Traktoren. Seit der Aufstauung des großen Assuandamms, sagt Theo, verändert sich das Leben am Nil. Der Fluss versorgt die Felder nicht mehr automatisch mit fruchtbarem Schlamm. Als Ersatz dienen viele Bewässerungskanäle. Und Düngemittel. Da freut sich die Ackerchemie, denke ich mir. Im Vorbeigleiten sehen wir den Fellachen bei der Arbeit zu. „Heute erwartet kein Pharao ihren Beitrag zum Bau des göttlichen Grabmals oder eines Tempels zur Verherrlichung des Sonnensohnes. Aber“, Theo macht eine bedeutungsvolle Pause, „anstelle der Beamten des Großen Hauses – das ist die Bedeutung des Wortes Pharao - fordert nun der ägyptische Staat seinen Zehnten ein.“ Trotzdem, auf dem ersten Blick spielt sich das ländliche Leben seit Generationen unverändert ab. Es braucht eine besondere Zähigkeit, Tausende und Abertausende von Jahren immer im gleichen Rhythmus von Geburt, Wachsen, Frucht bringen, Altern und Tod im Fließen des Nil zu erleben. Eselchen ziehen mit nickendem Kopf zweirädrige Karren. In sich ruhend nur das Vieh: kleinwüchsige Rinder, Schafe.

Äsen. Im Schatten liegen und wiederkäuen. Fliegen verscheuchen.

Im Nil die Fische. Auf dem Nil kleine Boote. In den Booten die Fischer. Meist sitzen sie zu zweit, glotzen stoisch schweigend aufs Wasser. Vielleicht meditieren sie auch. Was ist überhaupt meditieren? Mir ist, als würde dieses geruhsame, seit Jahrtausenden währende Leben auf meinen Geist abfärben. Man muss den Geist leeren, an nichts mehr denken, sagen die Gurus, höchstens den Atem beobachten: ein - aus - ein – aus – ein - aus. Dann käme ganz von allein und irgendwann die Erleuchtung. Vielleicht schläft der Meditierende darüber auch ein, oder wenigstens sein Bein, wenn er es im Schneidersitz versucht. Die Japaner nennen es Zen-Meditation. Der Onkel mokiert sich darüber.

„Die Erleuchtung kommt irgendwann? Das ist mir zu schwammig. Im Übrigen: Denken ist die höchste Errungenschaft des Menschen. Wäre Nichtdenken unser höchstes Gut, müssten wir Krokodile verehren wie die Ägypter. Stundenlang träge im Fluss dümpeln: verehrungswürdig? Nein.“ Er hält einen Augenblick inne, reibt mit dem linken Zeigefinger einen Nasenflügel, sicherstes Zeichen, dass er gerade nachdenkt.

„Ich berichtige mich. Selbst Urviecher wie die Krokodile müssen denken, sonst wären sie längst ausgestorben. Verhungert. Sie denken nur anders. Mächtige Tiere. Das wussten die Ägypter sehr wohl.“

"Paradox", was andres fällt mir dazu nicht ein. Zur Nilkreuzfahrt gehört nicht nur Schlemmen am Buffet und Chillen an Deck. Überall, wo das alte Ägypten prächtige Tempel und Grabmäler gebaut hat, findet sich auch das moderne Ägypten. Beim Landgang müssen wir durch ein Spalier von Händlern, die uns geschnitzte Skarabäen, heilige Katzen - die Göttin Bastet lässt grüßen - und noch viele andere aus der Götterfamilie verkaufen wollen. Oder Hemden und T-Shirts aus ägyptischer Baumwolle. „Das nervt“, sagt Benni, „grässliches Volk“, obwohl er am wenigsten unter aufdringlichen Händlern zu leiden hat. Sofort wird er von Jenny gerüffelt. „Ein bisschen schlauer solltest du in deinem Alter schon sein. Die Menschen leben von uns Touristen, und es gibt viele Arme hier. Dieser Junge, der dir ein T-Shirt verkaufen will, ist vielleicht der Ernährer seiner Familie. Wenn immer weniger Touristen wegen der Angst vor Terroranschlägen kommen, wird er immer weniger verkaufen, und die Familie muss hungern.“

„Dann kauft mir doch ein T-Shirt.“ Gut pariert Benni. Wir haben das T-Shirt tatsächlich gekauft, aber erst, nachdem Jenny es um die Hälfte herunter gehandelt hat. Sie musste ihm hinterher erklären, warum im Orient Handeln traditionell zum Geschäft gehört, und dass jeder das bei der Preiskalkulation berücksichtigt. „Wenn du dem Jungen eine Freude machen willst, schenke ihm hinterher etwas.“ Hat Benni gemacht. Hut ab!

Beeindruckend, wie die ägyptischen Männer in ihren Dschalabas durch das moderne Ägypten schreiten. Stolz. Die Frauen sind meistens verhüllt mit langem Kleid, Kopftuch und Schleier, manchmal müssen sie durch einen Sehschlitz schauen, und bei einigen ist der Sehschlitz sogar durch einen Gazeschleier verdeckt.

Ich: „Warum?“

Jenny: „Damit sie die Moral der schwachen Männer nicht gefährden.“

Isa: „Wo ist die Gefahr. Man sieht doch nichts.“

Jenny: „Eben.“

Theo: „Vergesst nicht, dass bei uns früher auch strenge Kleidersitten herrschten. Eure Urgroßmütter auf dem Land haben Kopftücher getragen und im 19. Jhdt. war ein Damenknöchel, von einem Knie gar nicht zu reden, ein höchst frivoler Anblick.

Ich: „Andere Zeiten andere Sitten.“

Theo: „Eine so freie Kleiderordung wie in unserer Gesellschaft gab es noch nie. Nudisten können am Nacktbadestrand bräunen; in der Sauna gibt es keine Geschlechtertrennung, Frauen tragen Hosen oder Röcke, kurz oder lang, ganz wie es ihnen passt.“

„Männer auch?"

„Natürlich, aber offensichtlich wollen sie nicht. Mehr Freiheit als bei uns geht nicht.“

Jenny: „Einspruch. Ich habe gelesen, dass Nacktheit im alten Ägypten bis zur 20. Dynastie üblich war. Und durchsichtige Gewänder waren der Clou. Guck dir nur die alten Grabmalereien an. In jedem Reiseführer abgebildet...“

Theo: „ Da hast du recht. Dahinter stand ein außerordentliches religiöses System. All ihre Beschwörungen irdischer Feste und Vergnügungen folgen dem Grundsatz: So schön wie hier, soll's im Jenseits ewig sein. Unsere Paradies- und Höllenvorstellungen verdanken wir letzten Endes den Ägyptern. Die Juden und Muslime natürlich auch.“

Das lässt mich nicht los. Vom Sonnendeck schaue ich den Fluss und schreibe ein Gedicht an den Nil.

Alles fließt. Vergangen sind die ägyptischen Reiche. Versunken hinter dem Horizont. Stoffwechsel. Durchströmt vom Wasser des Nil. Fische, auch Früchte und Pflanzen von seinem Ufer, die wir essen. Teil von uns, so wie wir Teil des großen Flusses sind. Alles Feste nimmt er mit. Schwemmt fort aus allen Körperöffnungen. Sich vereinen mit dem Fluss, aus dem es entnommen ward. Ausgeliefert unserer Sucht sind wir, Sucht, die uns mitreißt, mit dem dunkel brodelndem Strom vermählt. In Indien verehren sie die Mutter Ganges, trinken von ihr, trauen ihr Wunder zu, Segen und Heilkraft spendende Kraft. Warum nicht auch dem Nil ?

Ich habe mein Gedicht den anderen vorgelesen.

Jenny: „Mmmh. Wie bist du darauf gekommen?“

Theo: „Da musst du noch dran arbeiten, aber einige Ideen, nicht schlecht. Du hast doch hoffentlich kein Nilwasser getrunken?“

Isa: „Hört auf, wir sind nicht in der Schule.“ Sie äfft ihren Deutschlehrer nach: „Was wollte der Dichter uns wohl mit diesem Text sagen?“

Jenny klopft mir auf die Schulter: „Lass dich nicht entmutigen. Schreib weiter.“

Benni: „ Das soll ein Gedicht sein? Ohne Reim?“

Alles fließt (nochmal Heraklit)

oder:

O ISIS und OSIRIS O wüsstet ihr wie's mir ist

Stoßseufzer eines Ägyptenreisenden auf dem Abort.

Reden will ich nicht von den japanischen Touristen im Tal der Könige, Mund und Nase haben sie verdeckt mit Gazemasken: Schutz vor dem Fluch der Pharaonen oder ganz einfach Angst vor Ansteckung. Reden will ich nicht von all jenen, die mutwillig die Ruhe des Pharaos störten und dafür von seinem Fluch getroffen wurden, ob tückisches Tropenfieber, Cholera oder ein simpler Verkehrsunfall. Reden nicht von ihrem Schicksal. Am Ende waren sie alle tot. Sagt man. Alle, die bei der Öffnung des Grabes halfen: tot. Und die Pharaonen und Würdenträger selbst, all jene um ihr jenseitiges Fortleben Besorgten? Erging es ihnen etwa besser? Reden will ich nicht davon, wie sie ausgegraben, verschleppt und wieder versteckt wurden, Jahrhunderte vergessen und erneut entdeckt und ausgegraben. Reden nicht von den Mumien der Namenlosen, die europäische Kolonialisten den Götzen der Neuzeit ausgeliefert haben: in Dampflokomotiven der britischen Eroberer verfeuert, treiben sie den Fortschritt an. Steigen im Rauch auf zu den Geistern der Luft wie Andersens kleine Seejungfrau, nur weniger poetisch. Reden schließlich nicht von den ägyptischen Würdenträgern, den Pharaonen und hohen Beamten. In Vitrinen und Schauräumen internationaler Museen sind sie vorerst zur Ruhe gekommen. Wir Kinder der Moderne glauben nicht mehr an den Fluch der Pharaonen, nicht einmal in seiner harmlosen Variante, dem Durchfall. Bevor er uns trifft. Die letzte Infektion liegt viele Monate, wenn nicht Jahre zurück. Auch die Erinnerung daran. Das macht leichtsinnig. So stürzen wir uns ins ägyptische Abenteuer.

Reden will ich deshalb von mir. Ich musste erst nach Ägypten reisen, um am eigenen Leib den Unterschied zwischen erinnertem und aktuellem Schmerz zu erfahren. Zuerst ein Unheil verkündendes Bohren, Kneifen und Beißen im Unterleib, ein flaues Schwächegefühl, das mich mit grauen Schwingen einer Riesenfledermaus umflattert, dann einhüllt und ersticken will. Ich ringe nach Luft. Vergebliches Bemühen, mich in den Schlaf zu retten. Eines nach dem andern brechen die Schäfchen vor meinem inneren Auge zusammen, kotzen sich die Seele aus dem Leib, und auch mich treibt es, mich auszukotzen. Kaum habe ich den Abort erreicht, bricht er aus mir heraus. Auf der Kloschüssel, wie in einem monströsen Geburtsvorgang, öffnen sich die Schleusen und er bricht, fließt aus mir, reißt alles mit: der Alien, der es irgendwie in meinen Körper geschafft hat. Mächtig gewachsen aus den Kolibakterien des Nil, genährt aus meiner Lebenskraft. Alles fließt - und ich löse mich auf. Zurück bleiben wird eine stinkende Pfütze aus meinen Eingeweiden, andächtig davor meine Eltern und Geschwister: „Hier liegt Artus, der ein großer Dichter war, hingerafft durch Pharaos Fluch. Füllen wir, was von ihm übrig ist, in eine Kanope, auf dass sein verklärter Leib den goldenen Nachen der großen Toten besteigen möge und am Firmament seine Bahn ziehen, ewig kotzend.“

Ich sterbe.

Noch nicht, irgendwie schaffe ich es zu meinem Bett, breche auf dem Vorleger zusammen, liege zum Embryo zusammen gekrümmt. Noch die Bettdecke zu mir herab ziehen. Das Bett, ein Gebirgsmassiv, hoch über mir aufragen sehen. Zu hoch für mich. Ich bleibe liegen, kann mir jetzt Zeit nehmen zum Sterben. Alles ist besser als seinen letzten Atemzug auf dem Klo zu tun: ein wahrhaft würdeloser Tod. Meine Gedanken driften ab. Assuan sehen und sterben. Das ist es. Wir sind in Ägypten, genauer in der Gegend von Assuan, wo Onkel Baldur seit Ewigkeiten ein Haus hat. Die Eltern kennen es schon, aber wir drei sind das erste Mal hier. Noch besser, er hat uns alle über die Osterferien eingeladen: die Woche auf dem Nilschiff bezahlt und die kommende Woche in seinem Haus, wohin er voraus gereist ist. Wirklich großzügig. Vielleicht lernen wir endlich seine Tochter kennen. Die Eltern sagen, sie wohnt hier wegen des Klimas. Früher haben reiche Engländer in Assuan ihre Lungenkrankheiten auskuriert. Trockene warme Wintermonate statt englisches Schmuddelwetter. Das hätte ich mir auch gefallen lassen. Baldur hat uns vor drei Stunden vom Schiff abgeholt, da ging es mir noch gut. Unsere Zimmer liegen in einem richtigen Herrenhaus, mit beschattetem Innenhof, einem Springbrunnen in der Mitte und tropischen Pflanzen überall. Hat früher sicher einem reichen Engländer gehört, irgend einem Kolonialbeamten. Alles wäre nicht nur okay sondern phantastisch gut. Wenn, ja, wenn mich nicht der Fluch der Pharaonen getroffen hätte. Wenn ich jetzt nicht mit kurzen Pausen auf dem Klo sitzen müsste und scheißen oder in die Obstschale kotzen. Meistens beides zugleich: Diarröh touristica. Die berüchtigte ägyptische Darmgrippe. Wahrscheinlich ein Abschiedsgeschenk, ach was, ein hinterhältiger Fußtritt nach der ansonsten großartigen Nilkreuzfahrt. So unvorsichtig, Nilwasser zu trinken, war ich nicht, aber auch nicht vorsichtig genug. Habe mich zu sehr auf das Bakterien tötende System verlassen, das sie uns am ersten Tag anpriesen, vor allem, weil es mir an den ersten Tagen prima ging. Da wird man leichtsinnig, isst zum Schluss auch Salate und ungeschältes Obst. Wie heißt es : cook it peel it or forget it. Wer weiß, vielleicht hat sich das ultraviolette antibakterielle System während der 7-tägigen Schiffsreise erschöpft. Wirkt nicht mehr richtig. Das würde alles erklären. Jenny hat mir bei den ersten Anzeichen eine Kanne rabenschwarzen, bitteren Tee auf mein Zimmer gestellt. Dazu eine trockene Semmel. Mir ist alles recht, da ich sowieso bald sterbe... In winzigen Schlückchen nippe ich am schwarzen Tee, nage vorsichtig am kräftig gesalzenen Weißbrot – wie es sich für einen geschwächten Durchfallpatienten gehört, will er keine erneute Entladung provozieren. Gallebitter. Das Wort kannte ich. Jetzt kommt die Erfahrung hinzu. Oh weh mir Armem! Keiner schaut seit einer Stunde nach mir. Wahrscheinlich haben sie die Sache unterschätzt – oder mich aufgegeben. Oder mich vergessen. Es muss das Koma vor dem Ende sein. Meine Gedanken verwirren sich, driften fort, hin zu den Bildern einer fast vergessenen Lektüre. Ich öffne mühsam die Augen - und was sehe ich?

Zwei Frauen. Die junge war sehr schön. Ihr einziger Schmuck bestand aus ihrem langen herrlichen Haare... dieselbe Sammetschwärze der Augen, welche unter langen, schweren Wimpern halb verborgen lagen, wie Geheimnisse, welche nicht ergründet werden sollen...und als sie den schön geschnittenen Mund zu einem Lächeln öffnete, blitzten die Zähne wie reinstes Elfenbein zwischen den roten Lippen hervor. Die Farbe ihrer Haut war eine helle Kupferbronze mit einem Silberhauch. Dieses Mädchen mochte achtzehn Jahre zählen, und ich wäre jede Wette darauf eingegangen, dass es die Schwester Winnetous sei. 'Nscho-tschi ist dein Name?' sagte ich. 'Ja.' 'So danke dem, der ihn dir gegeben hat...du bist wie ein schöner Frühlingstag, an welchem die ersten Blumen des Jahres zu duften beginnen.'

Ich begreife nicht - und „Ntscho-tschi?“ krächze ich. „Man nennt mich Renata, nicht Ntscho-tschi“. Kein Traum. Keine Indianerin trotz der dunklen Haare, nicht Winnetous Schwester, sondern Onkel Baldurs Tochter: meine Cousine Renata. Sie ist hübsch, ein bisschen mickrig, würde Benni sagen, aber zweifellos hübsch, sogar sehr hübsch, und sie trägt das weite ägyptische Gewand, die Dschallaba. Beugt sich besorgt über mich, rümpft leicht die Nase: „Du stinkst“.

Natürlich das Erbrochene. Meine Kotze.

„Junge, wir ahnten nicht, dass es dir so schlecht geht.“ Jetzt beugt sich auch Jenny zu mir und streichelt mein Gesicht.

„Ich geb' dir sofort eine Infusion: eine isotonische Lösung: Elektrolyte; ein Antibiotikum und Wasser gegen den Flüssigkeitsverlust.“

Als Katastropenhelferin kennt sie sich natürlich aus, wenn Not am Sohn ist. Ist nach der ersten Schrecksekunde wieder in ihrem Element. Ich merke schon, mit dem Sterben wird es diesmal nichts. Innerhalb weniger Minuten hat sie das Erste - Hilfe Besteck herbei geschafft, mich aufs Bett gehoben und die Infusion angelegt. „Du musst dich schonen“ sagt sie. Nicht zu mir sondern zu Renata, die mit leichter Hand meine Stirn bedeckt. Ich kann sie nicht aus den Augen lassen, so zart und schmal und hübsch ist sie. Ehe eine weitere Stunde vorbei ist, spüre ich die extreme Mundtrockenheit abnehmen und meine Lebensgeister wiederkehren. „Warum musstest du auch vom Salatbuffet essen. Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.“ Das sagt Theo, als ich einen ersten Löffel Suppe in den Mund schiebe, und natürlich hat er recht. Ich sollte es wissen nach so vielen Reisen. Einen schweren Durchfall kuriert man nicht in 6 Stunden. Ich brauche eine weitere Infusion und traue mich in den nächsten Tagen nur an Suppen und Weißbrot. Renata leistet mir Gesellschaft und erzählt mir einiges über die alte ägyptische Kultur. Sie sagt: Meine Kultur. Manchmal wundere ich mich über ihre Reden. Ebenso über ihr Verhalten. Gestern bei Vollmond traf ich sie auf der Terrasse. Das heißt ich habe sie nicht sofort erkannt. Da war eine regungslose Gestalt an die Hauspalme gelehnt und ich rief: “Hey Jenny! Suchst du den Mann im Mond?“ Weil ich dachte, es sei meine Mutter. Aber die Gestalt drehte sich um und sagte: „Ich bin das Mondauge“. „Was soll das heißen?“ Ein bisschen dämlich gefragt, geb' ich zu, und sie wandte sich prompt ab; huschte ohne mir zu antworten zurück ins Haus. Im Nachthemd. Ein zartes um sie flatterndes Etwas, wie die durchsichtigen Gewänder der Frauen am ägyptischen Hof. Vielleicht ist sie mondsüchtig wie ich bis vor zwei Jahren, mein erster Gedanke. Oder in Trance mein zweiter. Ich blieb noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und schaute in den Himmel. Mondgucker haben sie mich früher geschimpft. Dabei würde jeder, ich sage jeder an meiner Stelle hier hinauf zum Mond und zu den Sternen schauen. In Europa muss man lange fahren, um den Sternen so nah zu sein wie im südlichen Ägypten. Warum ist sie so schnell verschwunden? Sie wollte wohl allein sein mit dem Mond, und ich habe sie gestört. Schade.

Heute früh bei Sonnenaufgang öffne ich mein Fenster und was seh ich? Auf der Terrasse unter mir wieder sie. Sie tanzt, und ich muss an unsere lndienreise vor zwei Jahren denken. Inder begrüßen den Morgen mit dem Sonnengruß. Damals habe ich selbst vom fahrenden Zug aus zugesehen. Surya namasta nennen sie es. Was ich jetzt sehe, ist auch ein Gruß an die Sonne. Baldurs Tochter tanzt ihn. Tanzt zu Ehren der aufgehenden Sonne, und ich rufe „Renata?“ und nochmals „Renata!“.

„Nicht Renata, Sonnenauge. Nach meinem Vater.“ Sie beugt sich, bis ihre Fingerspitzen den Boden berühren und mit zwei weit ausgreifenden Schritten hebt sie beide Arme empor zur Sonne, steht so eine Weile, den Kopf zurück geworfen, bevor sie den Tanz wieder aufnimmt, in schnellen Schritten erneut Kreise malt wie um eine unsichtbare Mitte. Mich hat sie offenbar vergessen, und etwas ratlos trete ich vom Fenster zurück. Was hat sie gesagt? Sonnenauge? Nach ihrem Vater? Ich werde nicht schlau aus ihr. Theo würde sagen: „Sie umgibt sich mit einem Schleier des Geheimnisses.“ Und Jenny? „Ach, papperlapapp. Sie hatte wieder ihren nächtlichen Hustenanfall und musste frische Luft schnappen. Bennie bringt es auf den Punkt:

"Sie hat nicht alle Tassen im Schrank“ sagt er und tippt sich dazu an die Stirn. An Isa scheint Renata einen Narren gefressen zu haben. Sie umarmt sie immer wieder, sagt Isis zu ihr und wenn wir andern verwundert glotzen: „Sie ist meine Seelenschwester.“ Ich habe es Theo erzählt. Er schaute danach ziemlich ernst.

„Weißt du was das Jerusalem Syndrom ist?“

„Nein“. „Hör zu! Israel ist das Heilige Land und Jerusalem heilige Stadt für drei Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. In Jerusalem war der Tempel Salomos, ungefähr dort, wo jetzt die große Moschee steht. In Jerusalem wurde Jesus verurteilt und hingerichtet. Du kannst dir vorstellen, dass viele christliche Pilger dort auf den Spuren des Herrn wandern wollen, z.B. die Stationen des Kreuzweges bis hinauf nach Golgatha ablaufen, in der Grabeskirche beten. Eindrucksvolles Bauwerk, wie aus einem düsteren SF-Film auf die Erde gefallen. Manche Gläubige versenken sich so sehr in die Geschichte, dass sie sich mit einer der Figuren identifizieren, mit einem der Jünger Jesu oder Maria aus Magdala oder gar mit Jesus Christus. Kurz: aus der Wirklichkeit herausfallen und der Welt abhanden gekommen, wie es so schön bei Rückert heißt. Salopp gesagt, sie werden verrückt. Israelische Krankenhäuser sind darauf eingerichtet und wissen, wie sie Leute mit Wahnvorstellungen behandeln. Meistens gibt sich das früher oder später. Manchmal auch nicht. „Tja , nach einer nachdenklichen Pause: Unsere Renata ist an etwas ähnlichem erkrankt. Wir nennen es Ägyptensyndrom.“

Ich beginne zu verstehen: „Du meinst?“

„Ja, sie hält sich für die Inkarnation einer ägyptischen Gottheit, der Katzengöttin Bastet, erkennt manchmal Baldur nicht als ihren Vater, oder sieht in ihm die Verkörperung des Sonnengottes Re, was Baldur sicher schmeichelt und gut zur Bedeutung seines germanischen Namens passt. Der Lichtbringer. Wie es dazu kam? Wahrscheinlich ein ganzes Bündel von Gründen: die Erkrankung der Mutter und die eigene schwache Konstitution, das Leben in diesem außergewöhnlichen Land mit seiner einzigartigen Geschichte. Sie weigert sich, zurück nach Europa zu kommen, nicht einmal im europäischen Sommer. Spielt hier eine Art ägyptisches Bibliodrama.“

„Bibliodrama?“

„Na, ist dir der Begriff noch nicht im Religionsunterricht begegnet? Man versenkt sich und führt biblische Geschichten als Rollenspiele auf. Zum Erkenntnisgewinn. Für Aha-Erlebnisse. So ähnlich müssen wir uns das bei ihr vorstellen.“ Meine Cousine die Inkarnatation einer altägyptischen Göttin. Bastet? Wo ich Katzen schon immer mochte. Tolle Sache.

Nachts höre ich sie manchmal im Nebenzimmer husten. Klingt beängstigend. Wahrscheinlich hat sie es auch auf der Lunge, und das Haus ist für sie wie das Sanatorium in Thomas Manns Zauberberg. Mit ihr als einziger Patientin. Es scheint ihr zu gefallen.

„Weißt du, ich lese viel“, sagt sie, als ich wage, sie auf ihr Leben in Ägypten anzusprechen, „und wenn ich mich gut fühle, unternehme ich Ausflüge mit Freunden, wir segeln auf dem Nasser-See, sehen im Osten die Sonne aufgehen, bevor die Touristen kommen, sitzen in einem der Cafes in der Altstadt von Assuan oder gehen dort am Abend essen.“

Klingt gut und gar nicht verrückt.

„Aber hast du keine Angst vor einer Darminfektion? Mich schaudert, wenn ich an die Scheißerei vor vier Tagen denke.“ Ich erwarte den bekannten Spruch zu hören: cook it peel it or forget it. Was sagt sie stattdessen? „Vergiss nicht, dass ich mein halbes Leben hier verbracht habe. Die Bakterien und ich haben sich aneinander gewöhnt. Inzwischen leben wir in friedlicher Symbiose, oder was glaubst du, warum die Ägypter das Wasser hier vertragen?“ Stimmt. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Hoffnung für meinen nächsten Ägyptenurlaub. Die Abende in Assuan werde ich nicht so schnell vergessen. Diese Farben und Gerüche, das Stimmengewirr, die Klänge in den Gassen der Altstadt. Es macht Spaß, hier zu flanieren. Wir besuche die große Moschee mit ihren Minaretten und die ebenfalls große koptische Kirche mit schlanken, Minaretten gleichen Türmen. Zumindest optische Anpassung der beiden Religionen. Sie haben viele Jahrhunderte friedlich nebeneinander und oft zusammen gelebt. Können sie das nicht weiter tun? Renata trifft eine Freundin, und sie schwatzen arabisch miteinander. Koptin oder Muslima? An der Kleidung könnte ich es nicht unterscheiden. Nur die Strenggläubigen und Traditionalisten sind sofort erkennbar.

„Ihr im Westen macht es euch zu einfach“, lächelt sie. „die Unterschiede sind da, aber nicht immer offenbar.“ Wenn die Wahnideen sie nicht überfallen, wirkt sie ganz normal und vernünftig. Kenn' einer sich aus – mit den Frauen, würde Onkel Baldur den Satz vollenden. Warum begleitet uns der Onkel nicht? „Kenne ich zur Genüge“, sagt er. Mir reicht das nicht. Er verschwindet regelmäßig in seinem Arbeitsraum. Was er jetzt wieder austüfteln mag, nachdem der Wandler zerstört ist? Ich erfahre es am letzten Tag unseres Aufenthaltes.

„Artur, wir müssen uns unterhalten. In meinem Arbeitszimmer.“ Er schließt die Tür auf. Interessant. Sein Arbeitszimmer ist der einzige verschlossene Raum im Haus. Daraus schließe ich wiederum, er hat was zu verbergen. Er blickt mir voll ins Gesicht und errät meine Gedanken.

„Es hat seinen Grund, wenn ich einen Raum verschließe. Versprich mir, dass du nie versuchst, in einen solchen Raum zu gelangen. Egal ob in Deutschland oder Ägypten.“ Natürlich verspreche ich es. Was haben wir Onkel Baldur nicht alles versprochen. Wie König Blaubart. Immerhin hat er keine Leiche im Raum versteckt, auch kein Foltergefängnis eingerichtet. Aber ich sehe sofort. Er experimentiert wieder. Die typischen Aufbauten überall, noch ein 3-D-Drucker. Selbst in Ägypten. Da fällt mir etwas ein, was ich vor Jahren aufgeschnappt habe, Vermutungen der Eltern. Baldur fliegt nicht nur wegen seine Tochter regelmäßig nach Ägypten. Da gebe es alte Verbindungen, unter Nasser geflochten zwischen Wissenschaftlern der Sowjetunion, der DDR und Ägypten; auch Baldur, als junger Forscher und Techniker dabei. Seilschaften, die den politischen Wechsel überdauern. Bei Onkel Baldur halte ich alles für möglich. „Schau dich um! Siehst du den neuen Wandler?“ Ich schaue mich um und sehe nichts. Nur einige kleine, eher winzige Gerätschaften auf dem Tisch vor mir. „Artur, mein Junge! Der technische Fortschritt ruht nicht. Denk an die Entwicklung der Computerindustrie. Mein erster Wandler war viel zu groß und auffällig und hätte früher oder später ungebetene Zuschauer angelockt. Jetzt hat er handliches Format.“ Fast wie die berühmten Knopflochkameras der Spione, denke ich, und erinnere mich an eine Erzählung Theos, als er mir das erste Smartfon schenkte: „Stell dir vor, dies Gerät bietet mehr Leistung als vor einer Generation der zentrale Computer einer internationalen Firma. Mit einer Schülerabordnung durften wir damals das Allerheiligste besichtigen. Den Computerraum mit dem raumhohen Zentralcomputer. Wenn ich besichtigen sage, meine ich nur durchs Fenster. Die empfindliche neue Technik war durch Air Condition geschützt und staubfrei gehalten. So haben sich die Zeiten geändert."

„Du bist ja nicht besser als die Großmächte“, bricht es aus mir heraus. „Erst wenn sie wirkungsvollere Waffensysteme entwickelt haben, sind sie bereit, die alten zu verschrotten und brüsten sich auf Abrüstungskonferenzen damit.“ Einen Moment schaut er wie ein Schüler beim Mogeln ertappt. Dann zuckt er mit den Schultern.

„Was willst du? Technische Erfindungen lassen sich auf Dauer nicht verhindern. Wie die Atombombe oder die Gentechnologie. Wenn ich es nicht erfinde, machen es andere nach mir. Das ist der Unterschied zu einer Beethoven-Sinfonie. Ohne Beethoven keine 5., die Schicksalssinfonie. Und der Grund, warum ich nach Feierabend gern Beethoven höre.“ Wie schafft er es nur, beides zu verbinden? Will er mich zu seinem Komplizen machen, wenn die Sache aus dem Ruder läuft? Ich muss meinem bewunderten Onkel Baldur wohl mehr auf die Finger schauen. Ausgerechnet ich, wo ich alles, was er macht, unglaublich spannend finde. Er ist noch nicht fertig.

„Dieser kleine Wandler enthält einen Materieverdichter. Meine bahnbrechende Erfindung: Die Moleküle eines anvisierten größeren Gegenstandes werden dichter gepackt, das heißt er wird verkleinert, derzeit bis zum Drittel der ursprünglichen Größe. Dabei behält er das ursprüngliche Gewicht. Ideal, um einen größeren Gegenstand zu versenden. Natürlich lässt sich der Vorgang wieder umkehren, wie eine verschlüsselte Botschaft.“ Wow!

„Nun hör gut zu! Der Grund, warum ich noch bleibe: ich muss den Wandler über größere Entfernung testen. Du wirst am kommenden Wochenende einen steinernen Gegenstand, am besten eine Skulptur von mir erhalten, auf ein Drittel der ursprünglichen Größe geschrumpft. Heb diesen Chip gut auf, er ersetzt zusammen mit der GPS Markierung das Empfangsgerät. Ich habe ihn bereits auf eure Gartenlaube daheim justiert. Ihr kriegt unmittelbar vorher eine SMS.“

„Sieht aus wie eine Lithium-Batterie, so klein wie ein Supermarktchip“. „Nicht verwechseln! Es wäre ausgesprochen ärgerlich, wenn ein Einkaufswagen ihn verschluckte und nicht mehr rausgibt.“

„Eine Skulptur? Hast du schon darüber nachgedacht, woher du sie nehmen willst?“

„Am einfachsten wäre natürlich das ägyptische Museum in Kairo. Da sind so viele Schätze versammelt, oder salopp gesagt, da steht soviel rum, dass sie in zwei Jahren nicht merken, wenn etwas verschwindet. Kairo ist mir aber zu weit. Ich suche einen interessanten Gegenstand in größerer Nähe. Du wirst sehen.“

„Schön - und was machen wir damit?“

„Nichts. Ich hole ihn innerhalb der nächsten zwei Stunden zurück. Einfache Umkehrung des Sendeimpulses. Lasst bis dahin niemand daran rühren.“

„Und wenn es nicht klappt?“

„Es klappt; wenn nicht, haben wir ein Problem. Keine Angst“, er klopft mir auf die Schulter, „es wird klappen.“ Na, hoffentlich. Das erinnert mich stark an 'Houston, wir haben ein Problem' von Apollo 18.

Renata hat sich am Morgen unseres Rückfluges nicht blicken lassen. Ich bin enttäuscht, weiß nicht warum. Auch der Onkel will uns nicht begleiten. Er verabschiedet uns an der Haustür: Ihr braucht mich nicht, um euren Flieger zu finden. Mir zwinkert er verschwörerisch zu, raunt: „Vergiss das nächste Wochenende nicht.“

Am Flughafen das übliche Chaos von Fahrzeugen und Menschen. Isa springt als erste aus dem Taxi, steuert den nächsten Lebensmittelstand an, um ihre letzten ägyptischen Pfunde loszuwerden. Da sehe ich eine Ägypterin ihr nachlaufen, von Kopf bis Fuß verschleiert, mit langen schwarzen Handschuhen an den Händen, total schwarz bis auf den schmalen Schlitz über den Augen. Sie drückt Isa etwas Helles in die Hand und verschwindet wieder in der Menge. Unsere alten Herrschaften haben mal wieder nichts gemerkt. Theo, weil er gerade umständlich zur Seitentür hinaus ächzt: „mein Fuß, oh mein Fuß“, (hat er sich gestern vertreten), Jenny, weil sie gerade dem Fahrer seinen Lohn in die Hand zählt, und ein Bakschisch obendrein. Isa ist stehen geblieben und dreht das helle Etwas unschlüssig in der Hand.

„Was hat sie dir gegeben?“

„Nicht hier“, zischt sie, dreht sich um und schiebt es in die Tasche.

„Ich krieg die Krise. Wären die Herrschaften vielleicht so freundlich, mir beim Gepäck zu helfen statt Maulaffen feilzubieten? Ihr seht doch, dass Euer Vater kurz vor der Beinamputation steht.“ Natürlich Katastrophen Jenny, die ein neues Airport-Drama einstudiert. Aber wir haben sie längst durchschaut: alles halb so ernst. Für die nächsten 60 Minuten sind wir beschäftigt: check in, Handgepäckkontrolle, duty -free shop, wo Isa sämtliche ägyptische und internationalen Duftwässer testet, bis eine Verkäuferin sie rausschmeißt. Keine ernst zu nehmende Kundin.

„Du stinkst wie ein Friseurladen“, mault Benni; „das halt ich nicht aus!“ und wendet sich ostentativ ab. Isa scheint es recht. Vorm Gate lockt sie mich in ihren Dunstkreis, einige Meter weg von der Familie und wedelt mit dem hellen Etwas vor meiner Nase: „Na? Was sagst du nun?“ Nichts sage ich; denn das helle Etwas ist ein Briefumschlag aus Recyclingpapier, und was drauf steht, weiß ich, ehe ich es lese: ISA und ARTUR in großen Lettern, darunter: persönlich. Alles wie gehabt. Was drin steht?

ACHTET AUF BALDUR

ER BRINGT EUCH ALLE IN GEFAHR!

VERTRAUT NIEMANDEM

EIN FREUND, DER ES GUT MEINT

Wir starren auf das Papier.

Isa: „Wer steckt bloß dahinter?“

Ich: „Wer war diese Frau? War sie jung oder alt?“

Isa: „Frag dich lieber, ob das überhaupt eine Frau war. Unter dem schwarzen Kittel konnte sich jeder Mann verstecken.“

Ich: „ Benni dürfen wir nichts davon erzählen.“

Benni: „Da seid ihr ja. Was dürft ihr mir nicht erzählen?“

Ich:„Nichts.“

Isa: „Wasch deine Ohren. Wir haben von Jenny gesprochen“, und weil er sich damit nicht zufrieden gibt: "Wären deine Ohren so groß wie deine Neugier, würden sie über den Boden schleifen. Dumbo!"

Zu viele Geheimnisse auf einmal. Vor Benni das Geheimnis des anonymen Briefs hüten, vor Isa und Benni das Geheimnis des neuen Wandlers. Ob das gut geht? Ich fiebre dem nächsten Wochenende entgegen.

5. Kapitel

Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.... Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen und nicht nur der technischen Reproduzierbarkeit.

Walter Benjamin. Das Kunstwerk in den Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit

Zumindest auf Onkel Baldur ist Verlass. Er wird am Sonnabend gegen 14:00 Uhr eine wichtige Botschaft per SMS senden. Spätestens dann sind wir mit dem Mittagessen fertig, und ich kann unauffällig verschwinden. Wie gesagt, Onkel Baldur hat an alles gedacht. Nur hätte er mit mit einer in unserer Familie grassierenden Seuche rechnen müssen, und diese Seuche heißt Neugier. Kaum habe ich die SMS gelesen: Freu dich auf das Baby! B. Bin ich schon unterwegs zum Gartenhaus. Verfolgt von Benni und Isa, die mich den ganzen Morgen nicht aus den Augen gelassen haben. Irgendwie haben sie gespannt, da ist was im Busch, und als die SMS kam, sind sie mir ins Gartenhaus gefolgt. Alle Versuche sie abzuschütteln: vergebens. Dass ich mir in Ägypten eine hoch ansteckende Krankheit: Pest, Cholera oder die Windpocken zugezogen habe, wollen sie mir nicht glauben. Lachen mich aus: „Hältst du uns für blöd?

Nun sag schon. Spuck's aus oder wir informieren die Obrigkeit.“ Was ist mir andres übrig geblieben? Bevor sie Theo und Jenny informieren, werde ich sie einweihen. Sie wissen schon zuviel. Seit fast 20 Minuten sitzen wir im Gartenhaus und warten auf die Sendung. Leider ist dies nicht die letzte Störung. Mitten in meiner Erklärung hören wir Theos Stimme. „Benni, Isa! Wo steckt ihr Beiden?“ Die Stimme kommt näher. Bevor er die Tür zum Gartenhaus öffnet, rufen, schreien wir durcheinander: „Stop! Du bist hier nicht erwünscht.“

„Warum nicht?“

„Wir...wir bereiten eine Geburtstagsüberraschung für dich vor.“ Pause. „Aber mein Geburtstag ist doch erst in zwei Monaten.“

„Man kann nicht früh genug anfangen. Bitte störe uns nicht. Wegen der Überraschung.“ Isa hat wieder einmal die Situation gerettet. Zum Glück stellt er keine unangenehmen Fragen - moderne Eltern wissen eben die Privatsphäre ihrer Kinder zu respektieren - sagt nur, dass beide für ein paar Stunden weg wollen. Besuch bei alten Freunden, für den Fall, dass jemand nach ihnen fragt. Durchs Fenster sehen wir, wie er sich zurückzieht. Endlich ist die Luft ist rein. Keine Minute zu früh. Wir hören es zischen, sehen einen sandfarbenen Wirbel, riechen etwas Heißes, wie Steine in der Glut. Plötzlich, wie mit einem Messer durchschnitten, ist alles vorbei. Vor uns auf dem Tisch ruht ein Menschenkopf, vielleicht 30 cm hoch. Nicht erschrecken! Der Kopf besteht nicht aus Knochen, Fleisch und Blut, sondern aus einem gelblichen Stein und ich kenne ihn. Er wurde nicht von einem Terroristen vom Körper getrennt, sondern unterhalb des Kinns auf eine ursprünglich etwa 1m hohen, quaderförmige Stele gesetzt, von der etwa 5 cm mitgeschickt wurden. Stück des Sockels für den steinernen Kopf. Es ist der Kopf einer Frau mit gleichmäßigen Gesichtszügen, der Andeutung eines Lächelns; auf Wange und Stirn liegen Reste einer roten Bemalung, die weit geöffneten Augen wirken noch größer und markanter durch in die Schläfen hinein verlängerte Lidstriche. Die Farbe der Lidumrandung ist verschwunden. Tolle Frau. Ihr Kopf würde jeden Kaminsims schmücken. Es gibt Jäger von verlorenen Schätzen, die mit ihrem Geld ganze Hundertschaften von Grabräubern und Händlern finanzieren, damit sie so einen Kopf stehlen. Für einen Platz vorm Kamin oder im Safe oder im Bankschließfach. Wir tun das nicht. Wir unterstützen nur Onkel Baldurs Forschungen. Ein wissenschaftlicher Test.

Das Tollste, ich weiß, wer die Frau ist oder besser, wer sie war. Sofern man das nach so langer Zeit noch wissen kann: 18. Dynastie vor mehr als 3000 Jahren. Woher ich es so sicher weiß? Vor 10 Tagen standen wir vor ihr und waren schwer beeindruckt, wie jetzt wieder. Was trägt sie auf dem Kopf? Sieht aus wie eine Krone. Die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens, auch wenn das meiste fehlt, genau wie das Machtzeichen, eine Kobra: die Uräusschlange. Hat jemand heraus gemeißelt. Wer das war? Onkel Baldur bestimmt nicht. Wir haben das Original vor zwei Wochen gesehen: im Totentempel der Hatschepsut. Da fehlte auch das meiste von der Krone. „Ich kenne sie.“ Isas Stimme klingt ganz andächtig. „Das ist Hatschepsut, die berühmteste Pharaonin Ägyptens. Stellt euch vor, 1200 Jahre vor Cleopatra, und wir haben das Original.“

„Der Kopf im Tempel war aber dreimal so groß; und er ist an der Seite kaputt. Kann man das reparieren?“ Typisch Benni, technische Begabung, aber kein historisches Bewusstsein. Künstlerisches noch weniger.

„Der Zahn der Zeit“, belehre ich ihn; „vielleicht waren es auch Hammer und Meißel. Denk dran, was uns Renate über sie erzählt hat. Ihr Stiefsohn Thutmosis III ließ ihren Namen und ihre Bildnisse zerstören, einfach wegmeißeln.“ Wie es auch die koptischen Christen mit vielen Götterbildern auf den Tempeln gemacht haben. Das letzte sage ich nicht laut. Aber es stimmt. Warum Thutmosis III das gemacht hat? Sie versperrte ihm über zwei Jahrzehnte den Zugang zur Macht.“

„Da ging es ihm wohl wie dem englischen Thronfolger Prinz Charles“, kann sich Isa nicht verkneifen. „Der wartet auch seit 40 Jahren, dass er mal ran darf. Vielleicht lässt er – wenn's soweit ist- alle Briefmarken mit dem Kopf der Queen einstampfen.“ Wir würden noch in einer Stunde diskutieren und schnattern, wenn nicht....

Hinterher sind wir uns einig: Das hätte nicht passieren dürfen. Jede Gänseherde ist schlauer, stellt ein paar Wachen zum Schutz vor dem Habicht ab, wenn sie mit Fressen und Schnattern beschäftigt ist. Und wir? Wir sind dümmer als die dümmste Gans; reden und schnattern, als wären wir allein auf der Welt. Nur so kann es passieren, dass wir den Habicht nicht kommen hören. Genauer Dr. Habicht, unseren Konrektor.

„Warum sollte Prinz Charles die Briefmarken mit dem Bild der Queen einstampfen?“ Dr. Habicht steht in der offenen Tür. Wir hatten sie nur angelehnt, und falls er geklopft hat, haben wir es überhört. „Erstaunlich, dass ihr die britische Thronfolge diskutiert. Ich suche euren Vater, ein archäologisches Problem, das ich mit ihm besprechen möchte. Und was treibt ihr, meine jungen Freunde? An einem so schönen Nachmittag eingeschlossen zwischen vier Wänden?“ Er fixiert uns mit Habichtblick, bis wir anfangen, unsere Schnürsenkel zu studieren.

Bekanntlich heißt es nomen est omen; und wir kennen niemanden, der seinen Namen besser verdiente als Dr. Habicht. Schon sein Gesicht hat etwas Raubvogelhaftes: scharfe Züge, schmale Lippen, eine vorspringende Hakennase, die buschigen Augenbrauen über den graublauen Augen meist kritisch gerunzelt. Ihm entgeht nichts, wenn er leicht vorgebeugt, die Hände hinter dem Rücken gefaltet durch die Schulflure streift. Bei Dr. Habicht spicken? Aussichtslos. Wie sein Namensgeber sitzt er auf der Lauer, stößt urplötzlich auf das arme Opfer herab: „Was haben wir denn da?“ (seine übliche Rede) und zieht den sorgfältig ausgearbeiteten Spickzettel zwischen Heftseiten, unter der Bank, aus einer Tasche oder dem Federmäppchen hervor, zeigt ihn mit spitzen Fingern der Klasse. „Unrecht Gut gedeihet nicht“, eine der Lebensweisheiten, mit denen er den armen Sünder zusätzlich beschämt. Aber wir sind hartgesotten. Probieren es immer wieder. Im Unterricht doziert er am liebsten, und wir staunen, was er alles weiß. Das wandelnde Lexikon. Kurz, Dr. Habicht weiß alles. Sein Fehler: Er weiß alles besser. Jetzt gerade stemmt er die linke Hand in die Seite, beugt sich vor, bis er mit dem Schnabel, sorry, der Nase fast den Kopf der Königin berührt. „Was haben wir denn da? Mmh. Gar nicht schlecht.“

„Nicht anfassen!“ Mein Ruf kommt zu spät.

Ehe wir ihn hindern können, schießt die rechte Hand vor. Fünf Habichtfinger krallen um den Kopf der Figur, und - Au! - mit einem Aufschrei zieht Dr. Habicht die Hand zurück, schaut mit schmerzvoll verzogener Miene auf die Fingerkuppen. Sie röten sich, wie es auch beim Kontakt mit einer heißen Herdplatte geschehen mag. Hoffentlich gibt es keine Brandblasen. Warum müssen manche Menschen alles anfassen? Wie die kleinen Kinder. Gut, dass wir einen Wasseranschluss im Gartenhaus haben. Während Dr. Habicht seine verletzte Hand unter fließendem Wasser kühlt, fragt er uns buchstäblich Löcher in den Bauch und kommentiert jede Antwort überlegen, wie es seine Art ist. „So so, ihr habt ihn heute früh im Backofen gebrannt und zum Auskühlen hier auf den Tisch gestellt. Dafür ist er aber noch ziemlich heiß. Eine Arbeit aus dem Kunstunterricht? Ich wusste gar nicht, dass Frau Schneider sich mit der Reproduktion antiker Artefakte befasst. Ich bin da Fachmann und hätte sie selbstverständlich beraten.“ Er kreist um den Tisch, beäugt die Figur von allen Seiten, zieht seine Lesebrille aus der Westentasche und wiederholt den Rundgang. "Nicht schlecht, nicht schlecht für euer Alter. Eine Gemeinschaftsarbeit?“ Jetzt hat er Isa und mich im Blick.

„J...Ja schon“, Isa windet sich.

„Es ist vor allem Artur“. So gibt man Verantwortung ab.

„Junge, du hast Talent. Weiter so, auch wenn du noch dazu lernen musst.“ Gleich wird er das Netz seines enzyklopädischen Wissens über mich werfen. Schon passiert es: „Eine wirklich gelungene Reproduktion. Frau Schneider hat euch sicher gesagt, dass es sich beim Original um das Bildnis einer Pharaonin handelt.“

„Aber das i s t das O....“ Benni verstummt unter dem vernichtenden Blick seiner Schwester. Dr. Habicht doziert sich in Begeisterung.

„Apropos Original und Nachahmung. Selbst wenn die moderne Technik uns erlaubt, jedes Kunstwerk abzubilden und zu vervielfältigen – Dürers Feldhase in jedem zehnten Haushalt“ – er rümpft die Nase – „selbst wenn dank der Fotografie die Kathedrale ihren Platz verlassen kann, um im Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden - Echtheit, meine jungen Freunde“ – er macht eine bedeutungsvolle Pause „Echtheit ist nicht reproduzierbar. Punkt.“ Er geht nochmals zum Waschbecken, taucht seine verletzte Hand ins Wasser, wedelt in der Luft, „der Luftzug tut gut“ und nimmt sein Thema wieder auf. „Ich werde euch den Unterschied zwischen Original und Reproduktion erklären. Dies“, er wedelt zum Kopf der Hatschepsut, „ist eine Nachahmung“. Wir schweigen. Auch Benni. „Das Original befindet sich in Ägypten, genauer im Totentempel der Königin. Übrigens die eigenwilligste Tempelanlage Ägyptens, behauptet die Forschung. Na, was sagt ihr dazu?“ Wir sagen nichts.

„Passt auf: Um den Riesenabstand zwischen Original und Nachahmung zu verdeutlichen, müssen wir den Begriff der Aura einführen. Aura, altgriechisch für Lufthauch, heißt die griechische Göttin der Morgenluft. Aura heißt für Esoteriker ein durchsichtiger Energiekörper, der unseren physischen Leib umgibt. Aura meint schließlich die einzigartige Ausstrahlung eines originalen Kunstwerks. Keine Nachahmung reicht da heran, und sei sie noch so gut. Ich sage es apodiktisch: Nur das Original hat Einmaligkeit und Dauer. Kennzeichen der Nachahmungen, vor allem der x-fach wiederholten ist ihre flüchtige Natur. Indem Nachahmungen alles gleich und für alle verfügbar machen, es auf das Niveau der Masse herabziehen, zertrümmern sie die Aura des Einmaligen und Einzigartigen. Walter Benjamin hat das sehr schön am Beispiel von Film und Fotografie erklärt. Die Politik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, aber das würde euch heute überfordern.“

„Ich finde diese Skulptur genauso schön wie das Original“, versuche ich mich an die Wahrheit heran zu lügen. Dr. Habicht wirkt leicht enttäuscht: Habt ihr's immer noch nicht begriffen?“ Deklamiert: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nie ergreifen. Goethe. Passt auf!“ Er steht vor der Skulptur, streckt beide Arme aus, die Hände in etwa 10 cm Abstand schließt die Augen. Es ist mäuschenstill im Raum. Wir sehen seine Gesichtszüge sich glätten, einen in sich gekehrten, gleichzeitig konzentrierten Ausdruck annehmen – ganz wie unser Kater Onyx, wenn er markiert. Das Ganze dauert vielleicht eine Minute, dann öffnet er wieder die Augen, hebt beide Schultern an und öffnet die Hände. Eine triumphale Geste der Resignation. „Ich hab's gleich gespürt. Da ist nichts, keine Originalität, nur der Abglanz einer naiven kleinen Schülerarbeit - und die Wärme. Aber die kommt bekanntlich vom Brennofen.“

Natürlich kam die Wärme nicht vom Brennofen, sondern von der Transportenergie. Man stelle sich vor, das Original auf ein Drittel verdichtet und über tausende Kilometer transferiert. Da muss es jedem Original zu heiß werden. Dr. Habicht verabschiedete sich ziemlich schnell, ich glaube wegen seiner Hand. Die Fingerspitzen färbten sich nämlich von Rot ins Grünliche. Sah echt verboten aus, wahrscheinlich wegen dem Kontakt mit Hyperenergie oder ähnlichem. Der Onkel wusste schon, warum er uns jede Berührung verboten hat. Am nächsten Schultag trug Dr. Habicht die rechte Hand verbunden. „Herr Doktor, was ist denn mit ihrer Hand?“ fragte ihn Isa scheinheilig. Ich hätte es nie gewagt.

„Verfärbung der Fingerkuppen“, hat er gemurmelt. „Schmerzt zum Glück nicht.“ Nach ein paar Tagen nahm er den Verband ab - und die Fingerkuppen? Waren gelb, blieben gelb. Wie bei einem Kettenraucher. Alle haben sich gewundert: Ausgerechnet ein militanter Nichtraucher wie Dr. Habicht ist der Nikotinsucht erlegen. Und das heimlich, denn er leugnet, streitet alles ab, wenn ironische Bemerkungen fallen. Kennt man ja bei diesen Suchttypen, frönen heimlich ihrem Laster. Keiner glaubt ihm mehr. Der Arme. Wir wissen es besser: irgendeine hyperenergetische Strahlung hat ihn eingefärbt. Vollkommen ungefährlich meint der Onkel, aber mit Ewigkeitswert. Frau Schneider wollte vorbei kommen und den Kopf sehen, aber wir haben sie abgewimmelt. „Dr. Habicht fand ihn nicht gut. Eine naive Schülerarbeit, sagt er. Da haben wir ihn zerstört.“ Sie war enttäuscht, wollte wissen, wie der Kopf genau aussah.

„Na, wie die echte Hatschepsut. Wie das Original“. Das war gelogen, nicht nur die Sache mit der Ähnlichkeit. Nichts gleicht dem Original schließlich mehr als das Original. Nein. Gelogen war, dass wir die Königin zerstört hätten. Wir sind keine Terroristen. Hatschepsut steht wieder an ihrem alten Platz. In ihrem Tempel. Kaum war der Habicht fort und die Luft rein, habe ich die versprochene SMS abgeschickt: Baby hat Heimweh, und zehn Minuten später war sie fort. Einfach so, ohne Luftwirbel und Farbspiele. Nur plop hat es gemacht. Die Antwort Baby ist gesund zurück kam erst eine halbe Stunde später. Na prima. Über echte Kunst, Original und Fälschung streiten wir seitdem. Benni glaubt, das mit der Aura ist Quatsch; Isa und ich sind uns nicht so sicher. Benni: „Wenn es kein Quatsch ist, warum hat er beim Original nichts gespürt?“ Isa: „Vielleicht, weil Onkel Baldur den Kopf verkleinert hat. Die Aurafühler bei sensiblen Menschen und Esoterikern schlagen dann nicht an.“ Gute Erklärung. Im Text von Walter Benjamin habe ich auch gelesen und find ihn ziemlich kompliziert. Werd' ihn mir für später aufheben.

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