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Alles gelogen (10)


Nürnberg: die große Tribüne: gestern

Nürnberg: die große Tribüne: heute

(aus den TV-Nachrichten fotografiert von Artur Schindler)

10. Kapitel

Einstürzende Bauten und ungewöhnliche Ortswechsel

Es ist passiert! Nein, nicht der Diebstahl der britischen Kronjuwelen, den wir sehnlichst erwarten. Etwas ganz anderes und zwar in unserer Nähe, und sofort streiten die Leute darüber, ob es gut oder schlecht war.

Die Nürnberger haben eine Sorge weniger, sagen die einen. Einer der protzigen Nazibauten existiert nicht mehr, und der andere ist schwer ramponiert. Es ist, vielmehr es war die bombastische große Tribüne auf dem Zeppelinfeld, die in der Mitte mit den vielen Stufen und den Klötzen an beiden Enden, ich lese 7x so groß wie der Pergamomaltar. Dort, wo Hitler die Reichsparteitage abnahm und sich wie ein Messias verehren ließ. In Stein gehauene Allmachtphantasien nennt Dr. Knauer, unser Geschichtslehrer sie. Ich lese im Internet: Der letzte, „Parteitag des Friedens“ genannt, war ab 2. September 1939 geplant und wurde wegen Krieg kurzfristig abgesagt. So eine hinterhältige, verlogenen Bande! Einen Angriffskrieg planen und die Welt mit Friedensschwüren hinters Licht führen. Unvollendet die Kongresshalle, 1935 begonnen und für 50 000 Menschen geplant, nach dem Vorbild des römischen Kollosseum. Kolloseum!!! Darunter haben sie's natürlich nicht gemacht. Aber bekanntlich kommt Hochmut vor dem Fall. Die Hakenkreuze und anderes wurde nach dem Krieg beseitigt und am Rest nagte der Zahn der Zeit. Ach was, er fraß sich durch das alte Gemäuer, bis ganze Bereiche für Besucher gesperrt wurden. Wegen der Unfallgefahr. Prompt flammten die alten Diskussionen wieder auf, ob kontrollierter Verfall, oder die Protzbauten gleich ganz beseitigen. Wie ich lese, werden die Sanierungskosten auf 77 - 80 Mio Euro geschätzt, und es würde mich nicht wundern, wenn 100 daraus werden. Viel Geld.

Dabei sind wesentliche Teile längst weg gesprengt, wie 1967 die Säulenkolonnaden. Wegen Einsturzgefahr. Tante Marga, die mit ihren Schülern immer wieder nach Nürnberg gefahren ist, behauptet, es sei immer schwierig gewesen, den Bus in die Nähe der Orte zu lotsen, das Kollosseum hinter Bäumen und Büschen, die Zufahrt versteckt, ohne Hinweise für den Busfahrer. Man sei mehrmals um den Bau herum gefahren, bis man eine Zufahrt entdeckt habe. Ihre Erklärung: Die Nürnberger schämten sich für die Nazibauten, würden sie am liebsten im Boden versinken lassen. Die Abwehr könne sie verstehen; denn der massenhaft verbaute Granit wurde in Flossenbürg und Mauthausen gebrochen: beide KZ-Anlagen, wo Tausende Häftlinge zu Tode gequält wurden..

Also böse Bauten?

Ihr Kommentar: Das sei wohl abhängig von der Nutzung. Man könne sie schließlich entgiften, wie mit vielen Nazibauten geschehen. Aus Aufmarschplätzen machen wir Lernorte, aus Massenunterkünften für gleich geschaltete Volksgenossen eine internationale Jugendherberge, aus Parteizentralen Büros oder Lagerräume für ein Versandhaus. Lauter Entgiftungsmaßnahmen.

Egal – Freitag Abend jedenfalls ist die ganze Geschichte, also die Haupttribüne, einfach zusammengesackt wie ein missratener Kuchen, und zurück geblieben ist nur ein Trümmerhaufen: Steine und brösliger Staub.

Leider hat keine Überwachungskamera den Vorgang selbst aufgezeichnet, und die wenigen Augenzeugen widersprechen sich, wie oft, wenn einem etwas Unbegreifliches widerfährt. Eine einzige, etwas verwackelte Videoaufzeichnung läuft seit gestern über die Bildschirme und bestätigt das Bild vom zusammen gesackten Kuchen. Oder Pudding. Das Unheil beginnt lautlos mit einem Adernetz, das sich ausbreitet, vertieft, weiter verzweigt. Die Führertribüne erreicht und sie auflöst, einfach verschwinden lässt, während eine Hälfte, wie von unsichtbaren Mahlsteinen zerbröselt sich zu einem Schuttberg auftürmt. Das war's und von - ich möchte sagen gespenstischer Stille. Die Reaktion der Nürnberger ist gespalten. „Endlich“, sagen die einen, „weg mit all den bösen Bauten“, und „wegen uns hätte die protzige Anlage schon eher verschwinden können. Wann kommt der Rest dran?“ Denn die Kongresshalle steht noch, zumindest zum Teil. Ein Flügel ist fast zur Hälfte verschwunden, der andere bröselt. Jetzt ähnelt der Bau noch mehr dem römischen Kollosseum. Zumindest vor der letzten Sanierung.

Soweit die einen. Was sagen die anderen?

Dr. Knauer bedauert die Zerstörung: „Zeugnis unserer Geschichte, auch wenn es manchen unangenehm ist. Lernobjekt für alle Nachgeborenen, wie kurz 1000 Jahre sein können. Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall, und alle Schuld rächt sich auf Erden. Wie wollen wir aus der Geschichte lernen, wenn die authentischen Lernorte verschwinden?“ So ähnlich seine Rede, als er uns auf die geplante Informationsfahrt nach Nürnberg einstimmte. Ein unvergleichlicher historischer Lernort, wo wir am Beispiel dieser Überwältigungsarchitektur lernen könnten. Vor allem über die Propagandatechniken der Nazis. Die Klassenfahrt war für den kommenden Dienstag geplant. Und jetzt? Alles kaputt. Oder fast alles. Das Gelände vorerst für Besucher gesperrt. Wieder einmal sind wir zu spät dran und lernen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wie wahr. Alle fragen: Wer hat das gemacht?

„Wir nicht“, rufen Benni und Isa wie aus einem Munde. „Ich nicht“, sagt Onkel Baldur, „obwohl es fatal an meine ersten Mauerdurchbrüche 1989 erinnert.“ Mit rechten Dingen konnte es nicht zugegangen sein. Das alte Mauerwerk aufgelöst und zum Teil verschwunden. Wohin weiß keiner, die Gerüchteküche brodelt, eine Vermutung jagt die nächste, und die befragten Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel.

Wir nicht. Wir wissen, welche Technik dafür verantwortlich war. Zusammen gesackt wie ein missratener Kuchen. So ähnlich hat der Onkel vor einigen Monaten seine ersten Versuche an der Berliner Mauer beschrieben. Natürlich. Der Materievernichter aus Onkel Baldurs Berliner Hotelzimmer. Sollten die Diebe der Reichskleinodien auch den Mauerspecht einsetzen? Sollten sie etwa auf die zweite Aktion - Raub der britischen Kronjuwelen – zugunsten von Zerstörung verzichten? Es sähe meinem Täterprofil, auf das ich so stolz bin, gar nicht ähnlich.

Meint auch Baldur. Gleich, nachdem die ersten Bilder über die Bildschirme flackerten, rief er mich an. „Junge, wir haben uns zu sehr auf die erste Gruppe konzentriert. Das rächt sich nun. Es muss weitere Täter geben. Ich fürchte, zum ersten Mal haben die neuen Besitzer des Mauerspechts zugeschlagen. Ob einer oder mehrere, wenn Menschen auf Zerstörung aus sind, kann es gefährlich werden.

Wir brauchen ein zusätzliches Täterprofil. Mach dich an die Arbeit!“

Einer oder mehrere - und was wollen sie? Das ist die Frage für

Täterprofil IV

Die Natur als Täter (Feuer, Wasser, Erdbeben) scheidet diesmal aus

Die Täter

1 es geht ihnen nicht um Geld

2 die Zerstörung ist ideologisch motiviert

3 Täter sind

3.1 Architekten / Stadtplaner, die einen Schandfleck

aus dem Stadtbild tilgen wollen mit

3.2 Aktionisten gegen Naziarchitektur

3.3 Anarchisten mit

3.3.1 Aktionen gegen Herrschaftssymbole:

3.3.1.1 Motto: Haut weg den Scheiß! bzw

3 3.1.2. Hauptsache es kracht

3.4 Terroristen. Motto: Hauptsache wir lehren sie das

Fürchten

3.5 Rote Socken (Originalton Baldur für ehemalige DDR-Seilschaften)

3.5.1 Verwirrung stiften beim Klassenfeind

3.5.2. Verdacht auf Baldur lenken (alte Rechnungen)

3.5.3 Zimmermädchen ist Komplizin oder Tochter der Roten Socke

3.5.4 Große Frage: Hat Pelzig was damit zu tun?

3..6 Ein noch unbekannter Geheimbund

Fazit: Aufschluss über die Täter und ihre wahren Motive dürften die nächsten Aktionen bringen.

Wir müssen abwarten.

Meint Baldur.

Meint auch Theo; denn in letzter Zeit tauschen die beiden verschlüsselte Botschaften.

„Ihr geht mir mit eurer Geheimnistuerei auf den Geist“, meint Jenny. Sie bereitet gerade eine Power Point Präsentation für den nächsten Katastrophenkongress vor und will nicht gestört werden. Theo und ich nutzen die Wartezeit für eine Grundsatzdiskussion. Thema: Böse Bauten.

Ob es sowas wirklich gibt? Wenn ja, ob Entgiftungsmaßnahmen reichen, von denen Tante Marga spricht. Eine SS-Schulungsstätte in ein christliches Mädchenpensionat umwandeln? Ein Aufmarschgelände in einen Freizeitpark? Oder die Schande beseitigen, für alle Zeit auslöschen, vom Erdboden tilgen, wie es der moderne Terror macht und rechte Populisten machen möchten, mit allem, was ihnen nicht passt.

Da bin ich bei meinem Vater an der richtigen Adresse.

„Weißt du, was du da sagst? Ich bin Archäologe und widme mein Leben der Erhaltung von Kultstätten rund um den Globus, nicht ihrer Zerstörung. Erinnern und Bewahren, dem Gedächtnis der Völker zurückgeben, was Jahrhunderte verschüttet haben, wie die buddhistische Tempelanlage von Borubodur, das ist unsere Aufgabe. Schneller zu sein als die modernen Grabräuber, und wenn wir künftige Zerstörungen schon nicht verhindern können, dann wollen wir gefährdete Objekte wenigstens digitalisieren und in Datenbanken sichern.

Wir wissen, Baldur geht darüber hinaus. Er will die Originale retten, gibt sich mit der virtuellen Sicherung nicht zufrieden. Hoffentlich übernimmt sich mein Bruder da nicht. Was heißt hier überhaupt böse Bauten? Dass sie von Diktatoren und Menschenschindern veranlasst wurden? Dass sie bösen Zwecken dienten? Bei Foltergefängnissen und Konzentrationslagern ist die Antwort klar. Böse. Aber soll man sie deshalb zerstören und damit die Chance vergeben, aus der Geschichte zu lernen? Diktatoren und Menschenschinder waren die orientalischen Herrscher allemal, jedenfalls nach modernem Demokratieverständnis. Trotzdem betrauern wir die Zerstörung Palmyras und denken bereits über einen Wiederaufbau nach. Oder die Terra Cotta Armee in X'ian. Sie sollte den chinesischen Kaiser in die Ewigkeit begleiten. Und was geschah wirklich? Nach seinem Tod wurden große Teile zerschlagen. In viele Tausend Stücke. Warum? Weil er ein Menschenschinder war. Also böse.

Restauratoren müssen jetzt die Teile in mühseliger Arbeit wieder zusammensetzen. Warum? Wer einmal in X'ian war, weiß die Antwort: Sie sind Teil der chinesischen Geschichte, mehr noch, von dort übergegangen ins Gedächtnis der ganzen Menschheit. Weltkulturerbe.

Oder nehmen wir den umgekehrten Fall: sogenannte gute Bauten, zur Verehrung von Religionsstiftern und Gottheiten errichtet. Verehrungswürdig und trotzdem zerstört wie 2001 die Buddhastatuen von Bamiyan in Afghanistan. Niemand weiß, ob sie irgendwann wieder erstehen oder für immer verloren sind. Außerdem, was meint hier gut? Sicher war es gut, wenn die heidnisch frommen Azteken Mexikos Tempel bauten, z.B. zu Ehren der Leben spendenden Sonne? Aber war es gut, wenn die Priester dort hunderte oder gar tausende Herzen opferten, nachdem sie diese aus lebenden Körpern geschnitten hatten? War es gut, wenn die frommen Spanier diese Tempel vernichteten und auf den Grundmauern christliche Kirchen bauten? War es gut, dass von diesen Kirchen aus Andersgläubige unbarmherzig bekämpft und deren Traditionen und heilige Schriften vernichtet wurden?“

„Ich, ich weiß es nicht“, mehr kann ich nicht sagen, und mehr lässt mich Theo auch nicht sagen.

„Kommen wir auf den Punkt: Wenn gute und schlechte Bauten nicht eindeutig bestimmbar sind, wie wollen wir entscheiden, welche erhaltenswert sind, beziehungsweise ihre Wiederherstellung verdienen. Also verzichten wir auf Moral und lassen historische Bedeutung, Kunst und Architektur entscheiden.“

„Und die Zeit“.

„Richtig. Es braucht Zeit, um sich mit manchen Bauwerken zu versöhnen und ihnen Denkmalschutz zu gewähren. Frühere Generationen kannten da keine Bedenken. Für einen Neubau im Zeitgeschmack hat man schnell das Werk eines bedeutenden Baumeisters abgerissen. Die Frage, Wiederaufbau, schonende Rekonstruktion oder Vergessen stellt sich immer wieder neu. Das größte Unheil richten Zeitgenossen und die unmittelbar Nachgeborenen an. Was Erdbeben, Kriege und Verfolgung nicht geschafft haben, schaffen sie. Nicht erhaltenswert heißt es dann.“

Nicht erhaltenswert wie dieser amerikanische Mammutbaum. Ich erinnere mich. Da hatte eine junge Frau drei Jahre in der Baumkrone ausgeharrt und war erst herab gestiegen, als die Holzgesellschaft den Baum zu erhalten versprach. Ich erzähle Theo die Sache mit dem Mammutbaum. Er erinnert sich auch: nicht erhaltenswert. Mit eben dieser Begründung ließ dieselbe Holzgesellschaft einige Monate später Luna fällen. So hieß der Baum. Nicht nur Pharaonen Buddhastatuen hatten einen Namen.

Theo: „Zurück zu Stein und Eisen. Zurück nach China: Die Chinesen schaffen nach 2 Jahrtausenden die Terra Cotta Armee neu, was sie nicht gewagt hätten, als die Erinnerung an des Kaisers Untaten noch frisch war."

Ich protestiere: "Wenn das so ist, könnte in einigen Jahrhunderten bei uns Leute hergehen und die große Tribüne vom Zeppelinfeld samt Säulenkolonnaden wieder herstellen, so wie das Berliner Schloss. Schließlich war der Pergamomaltar Vorbild.“

„In einigen Jahrhunderten werden wir andere Sorgen haben.“

Damit ist für ihn das Gespräch beendet, und er schiebt mich freundlich, aber entschieden aus seinem Arbeitszimmer.

Bäume oder alte Mauern retten? Oder beide? Was ist wichtiger?

Von Pelzig hören wir nichts. Dafür hat er uns seinen Sohn geschickt: „Zwei Tage krank gemeldet und das Wochenende dazu. Die Zeit reicht hoffentlich, euer Provinznest aufzumischen.“

Typisch Karlchen – Charlie - Großmaul - Gerede, als Benni und ich ihn am Bahnhof abholen. Im Gegensatz zu seinem Vater ist Nerven seine Natur und nicht Verstellung. Und bis auf Benni sehnen alle das Ende der viertägigen Heimsuchung herbei. Von unserem Städtchen hat Karlchen vorher noch nicht gehört. Wie erwartet. Wer weiß schon den Namen unserer Stadt? Als man vor einigen Jahren einen Wettbewerb startete, um ihren Namen mit einem zünftigen Slogan allgemein bekannt zu machen, verlief die Sache im Sande. Tante Marga, die sich mit zwei Vorschlägen beteiligte: „Hier können selbst Protestanten selig werden“ und „Das fränkische Rom – wir lieben es“, hat nie wieder etwas davon gehört. Wahrscheinlich kennen wir uns selbst nicht, weshalb ich auf weitere Namensnennung verzichte. Hat eh keinen Sinn.

Damit sich Karlchen später erinnert, geht er jeden Tag zusammen mit Benni und Mehmet auf Erkundung. Mehmet ist Erkans Cousin aus Wuppertal, übers Wochenende zu Besuch und noch neugieriger als die beiden. Zusammen bilden sie die schrecklichen drei, ein Trio infernal, oder wie Jenny treffend sagt. Die drei passen zusammen wie die Faust aufs Auge.

Pelzig holt seinen missratenen Sprössling persönlich ab. Sonntag nachmittag steht er unangemeldet vor der Tür, Onkel Baldur im Schlepptau. „Ist was passiert?“ fragt Theo überflüssigerweise. „Wäre nicht Gefahr im Verzug, wären wir nicht hier“, sagt der Onkel, und sie verziehen sich ins Gartenhaus. Keine Chance, sich ungesehen zu nähern und wenigstens einige Gesprächsfetzen zu erhaschen. Alle drei schauen ungewöhnlich ernst, als sie zurück ins Haus kommen, und ich ahne, die Ereignisse überstürzen sich mal wieder. Ich höre Pelzig seufzen: „Dabei dachte ich, wir hätten noch Zeit bis zum Nationalfeiertag.“ Bei meinem Anblick verstummt er und Baldur sagt: „Geduld, Geduld. Von jetzt an muss jeder Schritt gründlich überlegt werden. Ein Fehler, und es kommt zu Todesopfern und schwersten Schäden, was wir grade verhindern wollen. Von den diplomatischen Verwicklungen gar nicht zu reden.“

Welcher Nationalfeiertag? Die Sache wird für mich immer rätselhafter, und ich bin gespannt auf Baldurs Auskunft nach Abreise der beiden Pelzigs. Als Eingeweihter und Geheimnisträger habe ich ein Recht auf Auskunft. Oder nicht?

„Schlimme Sache“, sagt Theo zur Eröffnung. „Mir wäre lieber, ihr hättet mich nicht eingeweiht. Wie soll ich bei der Ungewissheit, wann es losgeht, noch ruhig schlafen. Es ist, als würde ich auf ein neues Herz warten. Jederzeit kann das Telefon klingeln, in einer Minute, oder in zehn, in einer Stunde oder in zwanzig, diese Woche, nächste Woche, vielleicht gar nicht, wie kann ich da in Ruhe abwarten?

Ein Terroranschlag wird erwartet. Die Hinweise verdichten sich, Paris wird das nächste Ziel sein“, - schon wieder denke ich, und: die armen Franzosen. So, wie im Kino Superman um Hilfe gebeten wird, mit seinen Superkräften das Unheil abzuwenden, genauso hat sich die Organisation hinter Peter Pelzig an den Erfinder Baldur Schindler gewandt, damit er mit Hilfe einer seiner genialen Erfindungen die Gefahr bannt. Schlau, und der Onkel sieht aus, als würde er gerne helfen. Nur wo genau, wann genau und wie genau das Attentat geschehen soll, wissen wir nicht. Pelzig hat eine Liste der besonders gefährdeten Orte in Paris aufgestellt, vom Louvre über den Triumphbogen zum Pont Neuf, und natürlich den Eiffelturm, Wahrzeichen der Stadt. Jeder der gefährdeten Orte hat ein Passwort erhalten, das ist sicherer als das allzu bekannte Mayday und wir sparen uns langes Hin- und Hergefrage von wegen Wie bitte? Wo? Warum da? Für den Fall, dass uns jemand abhört. Wie der Empfänger eines neuen Herzens und das Operationsteam müssen wir jederzeit bereit sein. Ich bin Baldurs Assistent, bei der Vorbereitung und bei der Durchführung unserer Operation, wenn es sehr schnell gehen muss. Er kann sich auf mich verlassen. Um in der Sprache der Medizin zu bleiben. Wer ist der nächste Patient?

Ob und wie wir es Jenny beibringen sollen, ist uns schleierhaft. Wo sie nächste Woche nach Paris zu einer Konferenz von Medecins sans Frontieres – Mediziner ohne Grenzen – reist.

Der Onkel: „Sag ihr in jedem Fall, sie soll dem Eiffelturm nicht zu nahe kommen.“

*

Wie recht der Onkel doch hatte. Keine Woche ist es her, dass sich der Bund der schrecklichen drei aufgelöst hat. Karlchen Pelzig mit seinem Vater zurück in Potsdam, der Cousin bei der Familie in Wuppertal, und Benni lernt für die nächste Englisch-Schulaufgabe. Sofern man seinen Beteuerungen glauben darf derzeit der fleißigste Schüler seiner Klasse. Peter Pelzig in der Potsdamer Zeppelinstraße, Baldur in seinem Häuschen am Nürnberger Stadtrand, wir in unserem Haus - der Name unserer Stadt tut nichts zur Sache – wir alle warten ab.

Warum wir die französischen Behörden oder die Securité, den französischen Geheimdienst nicht verständigt haben?

Das habe ich Pelzig auch gefragt, bei allem, was mit Geheimdiensten und internationaler Spionage zu tun hat, ist er der richtige Ansprechpartner. Geht leider nicht, wie Pelzig uns erklärt. Seine Leute vermuten eine undichte Stelle dort, einen Agenten der Gegenseite, und die Terrorzelle wird eher losschlagen als aufzufliegen. Das heißt mit einer Warnung würden wir genau das auslösen, was wir verhindern wollen.

Wir vertreiben uns die Wartezeit, indem wir den Gegenschlag vorbereiten. Alle gefährdeten Objekte in Paris und die Gegenstationen sind gescannt und gespeichert. Baldur hat seine Berechnungen abgeschlossen, den Transporter und die GPS-Verbindungen ein letztes Mal überprüft und stellt uns jetzt Plan A vor. Plan A sieht den Transport des gefährdeten Objekts über Zwischenlagerung in einer Raumfalte vor.

Zwischenlagerung nur so lange, bis das erste Ziel gefahrlos angesteuert werden kann. Bei unvorhergesehenen Problemen - mit Zwischenfällen müssen wir immer rechnen – tritt Plan B in Kraft: ein neuer Zielort. Baldur: Sollte das Objekt zu groß sein, verkleinern wir es, sagen wir um 20%. Mein Materieverdichter arbeitet zuverlässig. Und als letzte Sicherheit bleibt uns der Chip am ausgewählten Zielort.“ Wie beruhigend. Am Abend kam eine letzte Meldung Pelzigs vom ersten Zielort: Wir sind nah dran, seid bereit.

Ich mache mir vor Aufregung fast in die Hose, als das verabredete Signal ertönt. Es ist genau fünf nach zwölf, Mitternacht, und das Signal trifft mich im Bett, wo ich seit einer viertel Stunde Schäfchen zähle. Schließlich hat es in den letzten Tagen zwei Fehlalarme gegeben, und der Mensch braucht seinen Schlaf. Vor allem Schüler, wie Theo nicht müde wird zu betonen. Das Signal ist nicht irgendeines, nicht die Melodienfolge meines PC, kein Telefonat, keine Handymelodie. Ich würde es unter hundert Signalen wieder erkennen: Baldurs Erkennungszeichen für höchste Gefahr, sozusagen sein Mayday, und er hat es komponiert. Ich springe aus dem Bett und stoße fast mit Theo zusammen, hinter ihm -verschlafen- Benni und Isa, die beide ebenfalls das Alarmsignal gehört haben. Es geht los!

Baldurs Bild erscheint auf dem Monitor, seine ruhige Stimme: „Wir haben sie geortet, etwa 10 Mann. Sie befinden sich in einem Tunnel direkt unter dem Rock der eisernen Lady, französisch La Grande Dame de Fer: Mit jeder Menge Sprengstoff. Ich löse den Transport aus.“ Das ist unser Stichwort für den Eiffelturm: Eiserne Lady.

Schade, dass wir nicht sehen können, was jetzt passiert. Bei dem großen Objekt muss es einen Wirbelsturm geben, und weil die Antenne von der Turmspitze mit muss, dürften wichtige Funkverbindungen ausfallen. Zum Glück besitze ich jede Menge Vorstellungskraft, wie es sich für einen künftigen Dichter gehört. Ich stelle mir Piloten und Fluggäste einer Passagiermaschine über Paris vor. Natürlich bewundern viele die Stadt der Lichter unter ihnen. „Da, der Eiffelturm, wie klein er von oben aussieht.“ „Wie schön er beleuchtet ist.“ „Wahrhaftig das Wahrzeichen von Paris.“ Während sie hinunter schauen, einige fotografieren oder filmen, was ihnen später viel Geld einbringen wird, geschieht das Unglaubliche: Über den hell leuchtenden Turm legt sich ein dünner Schleier, und dann steigt er auf in einem metallischen Wirbel. Verschwindet mit einer Art Überschallknall in Gold, Silber oder eisernem Glanz– kein Wunder bei dem Gewicht. Die es gesehen haben, streiten später darüber, und die Fotos und Filme geben wegen der nächtlichen Lichtverhältnisse keine klare Auskunft. Aber alle behaupten später, der farbige Wirbel habe dem Flieger einen richtigen Schubs verpasst, bevor der Turm verschwand. Laut Auskunft des Piloten musste der Autopilot sich sogar schwer anstrengen, um die Erschütterung auszugleichen. So war es, da bin ich mir ganz sicher.

Es folgt der nächste Schritt zu Plan A.

Onkel Baldur an Peter Pelzig: „Wie sieht es bei dir aus? Alles bereit?“

Peter Pelzig an Baldur: „Alles bereit. Die Übernachtungsgäste sind wegen Reinigungsarbeiten auf die Außenanlagen umgebucht und die letzten Badegäste haben die Anlage gerade verlassen. Sogar die Papageien und Flamingos sind ausquartiert. Die eiserne Lady kann kommen!“

Schöne mächtige Lady, La Grande Dame de Fer: kein Vergleich mit Baby Hatschepsut. Selbst wenn Onkel Baldur sie liegend unterbringt und sicherheitshalber um 20% verkleinert hat, wird sie den ganzen Raum einnehmen. Für eine Stunde etwa, bis wir das endgültige Ziel justiert haben. Spitzbergen. Heimathafen des Eiffelturms für die nächsten Jahre, bis die Menschheit vernünftiger wird. Warum will Onkel Baldur sie ausgerechnet nach Spitzbergen schicken? So nah am Nordpol? Warum nicht in sein unterirdisches Magazin im Spreewald?

„Kommt nicht in Frage“, war Baldurs Standpunkt, „die Anlage muss absolut geheim bleiben.“ Wir haben lang und breit diskutiert, wie wir unsere Ziele erreichen: die Lady vor der Zerstörung durch Terroristen bewahren, sie nicht vor der Welt verstecken, sondern die Entführung mit einem edlen Ziel verbinden. Theo hatte die erlösende Idee, weil er bei seinen Ausgrabungen immer wieder auf uralte Pflanzenreste gestoßen ist. Grabbeigaben vor allem, die sogar noch keimfähig waren. Was das mit Spitzbergen zu tun hat? Da oben in der Kälte – von uns aus gesehen – werden im Rahmen eines UNO - Projekts Pflanzensamen aller Staaten konserviert. Theo: „Schaut euch um, geht mit offenen Augen durch die Welt. Hört zu! Lest und sei es zwischen den Zeilen. Dann wisst ihr, dass es überall zu einer Verarmung der Arten gekommen ist, -

Sowohl Tiere als auch Pflanzen, und das schreitet fort - bis zum endgültigen Verschwinden.“

Baldur: „Ich kenne einige Idealisten, die alte Tierrassen zu erhalten versuchen, weil sie mehr Widerstandskraft besitzen, selbst wenn der Ertrag in Wolle, Milch, Eiern und Fleisch geringer ist als bei den modernen Turborassen. Eine Tierseuche in der Massenviehhaltung, der Verdacht reicht oft schon – und Tausende, Hunderttausende, ach was, Millionen werden gekeult. Ruinierte Betriebe, das Vertrauen der Verbraucher ist weg, von den armen Geschöpfen ganz zu schweigen. Oder die Sache mit dem Saatgut. Altes, gesundes Saatgut muss sich gegen die Konkurrenz und Marktmacht genoptimierter Pflanzen durchsetzen. Kämpfe um Patente, die sich auch im Hintergrund moderner Kriege abspielen. Da ist die Versuchung von Firmen auf der Siegerseite groß, solche Sammlungen konkurrierenden Saatgutes zu vernichten. Alles schon passiert.“

Die Frage: Wozu ausgerechnet Spitzbergen? Hat er damit fast beantwortet. Wir schlagen mit unserer Aktion nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe. Indem wir den Eiffelturm vor seiner Zerstörung durch Terroristen nach Spitzbergen entführen, lenken wir die Aufmerksamkeit der Welt auf ein unschätzbares Erbe, das wir der Nachwelt erhalten müssen: die Pflanzen und Tiere dieser Welt." Soweit der Onkel. Mich erinnert das an die ersten Hefte der Perry-Rhodan-Serie, zu der ich vor drei Jahren von Karl May übergewechselt bin. Ja, ja, ich weiß, solche Heftromane haben einen schlechten Ruf, und viele Erwachsene trauen sich nicht zuzugeben, dass sie sowas mal mit Begeisterung gelesen haben. Wie bei Karl May, der wurde verfemt, weil er sich mit Old Shatterhand verwechselte und seine Reiseabenteuer ausgedacht hatte. Dabei gibt es kein lohnenderes Reiseziel als das menschliche Gehirn. Kluge Leute wie Hans Wollschläger haben das erkannt und Karl Mays Ruf gerettet. Wer wird Perry Rhodan retten? Wenn ich mehr zu sagen hätte, würde ich seine Ehrenrettung starten, wenigstens für die ersten Zyklen, solange ich dabei war. Da trifft unser Mann im All, dieser Perry Rhodan beim ersten Mondflug auf Mitglieder einer überlegenen Zivilisation. Mit deren Hilfe einigt er die zerstrittene Menschheit und führt sie friedlichen Zeiten entgegen. Zu schön um wahr zu sein? Nun, wenn wir mit einer spektakulären Aktion die Aufmerksamkeit der Welt wecken und das Ganze mit einigen Machtdemonstrationen unterstreichen, wie Superman, Supergirl oder die X-men haben wir vielleicht Erfolg. Zumindest eine Besserung für Europa und den Rest der Welt könnten wir erreichen.

Also blieben wir bei Plan A und suchten einen Landeplatz. Eine Landebahn war schnell gefunden und wurde von Baldur präpariert. Die Verankerung hat ihm zwar einiges Kopfzerbrechen bereitet. Doch über die Lösung will er sich nicht weiter auslassen: Es hat etwas mit Schwerkraft zu tun. „Zu kompliziert für euch“, sein einziger Kommentar.

Zurück zu unserer eisernen Lady. Wir hören Peter Pelzig sich in Begeisterung reden: „Tooor! Das Baby, Tschuldigung, die Lady ist gelandet, alles wie geplant, erstreckt sich vom Zelt Camp über den Regenwald und einen Teil der Südsee bis zu den Wasserrutschen. Oh, Oh, da gibt es ein paar Schäden, einige Palmen geknickt und mit einem Fuß hat unsere Lady die Decke durchstoßen. Könnt ihr das bezahlen?“ Der Onkel grinst: „Da mach dir keine Sorgen“, und ich weiß, woran er in diesem Augenblick denkt. An einen Berg echter Goldbarren unter dem Spreewald.

Der Onkel reibt sich die Hände: „Der Weiterreise steht nichts im Wege.“ Außer Jennys Anruf. Ausgerechnet jetzt. „Stellt den Fernseher an. Das müsst ihr sehen. Oder habt ihr noch nichts mitgekriegt. Ich glaub mich tritt ein Pferd.“ Die Verbindung wird unterbrochen. Wahrscheinlich haben zu viele zum Telefonhörer gegriffen, wie zum Jahreswechsel. Wir haben tatsächlich vergessen, den Fernseher anzuschalten und holen es nach. Paris auf allen Kanälen, der leere Platz, das Marsfeld, wo sich vor einer Stunde noch der Eiffelturm erhob, in der Mitte ein offener Graben. Offenbar die Reste des Tunnels, und darin, von Polizisten und Sicherheitskräften umringt: zehn nackte Männer. Ihre Kleidung zwischen Gesteinsbrocken und Werkzeug auf einem Haufen am Rande des Marsfeldes.

Baldurs Grinsen wird noch breiter. „Wir haben uns einen kleinen Scherz erlaubt. Nicht wahr Benni, du weißt, wie sowas funktioniert, und die Polizei habe ich vorgewarnt, damit sie rechtzeitig zur Stelle ist.“

„Aber der Sprengstoff?“ „Entschärft. Das war übrigens meine erste Aktion. Frag mich nicht wie. Hauptsache, ich weiß, wie's geht. Wir haben diesen zehn Gentlemen gerade das Leben gerettet.“ Ich: „Besonders dankbar schauen sie nicht aus.“

Baldur: „Vielleicht in einigen Jahren, wenn sie klüger geworden sind. Die Chance besteht immer, und vielleicht führt sie sogar ihr Prophet auf den rechten Weg. Merkt euch, das sind prophetische Worte.“ Das ist unser Onkel Baldur. Er gibt uns Rätsel auf wie die ägyptische Sphinx.

Er hält den Sender in der Linken, den rechten Zeigefinger über dem grünen Knopf: „Auf geht’s Madame!“

Was danach folgte muss ich mit einem gewissen zeitlichen Abstand beschreiben, genauer nach zwei Wochen; denn noch jetzt, jedes Mal wenn ich daran denke, zittern mir die Finger.

Statt den Transport auszulösen, zögerte er, beugte sich hinunter zu seinem Arbeitstisch und studierte die Skalen eines Messgerätes. „Das darf doch nicht sein! Ausgerechnet jetzt, wo wir es dringend brauchen.“

Was war geschehn? Das Unvorhersehbare. Die Amerikaner hatten das GPS ausgeschaltet oder gestört. Vielleicht ein Test, vielleicht eine Warnung des militärischen Abschirmdienstes vor unbekannten Flugobjekten; vielleicht sogar wurde unsere Zielerfassung geortet. Da standen wir - wie die Artisten ratlos unter der Zirkuskuppel - unsere europäische Konkurrenz Galileo, die mit GPS konkurrieren sollte, leider noch nicht einsatzbereit, und wir konnten nicht wagen, den Eiffelturm auf gut Glück los zu schicken. Nicht auszudenken, wenn er irgendwo im Eismeer versunken wäre.

Wir hatten keine Zeit zu verlieren; aber was tun?

„Plan B: der Chip“, sagte der Onkel und legte einen Schalter um. Auf dem Bildschirm erschien das leere Rollfeld des Berliner Flughafen Tempelhof. „Na bitte.“ Er löste den Transport aus. Über Peter Pelzigs Lautsprecher hörten wir ein Pfeifen und Sirren, dann den Ohren betäubenden Knall, mit dem der Eiffelturm aus Tropical Island verschwand, dabei einige tropische Schlingpflanzen mit sich nehmend. Während die anderen wie gebannt auf Berlin Tempelhof glotzten, wo jeden Augenblick der Eiffelturm landen musste, schielte ich hinüber zu Benni. Mir war etwas aufgefallen. Bei Baldurs Kommando Plan B: der Chip war er heftig zusammen gezuckt und machte das uns allen wohlbekannte, unglückliche Gesicht, wie immer, wenn er etwas ausgefressen hatte. Und Sekundenbruchteile später muss ich genau so unglücklich aus der Wäsche geschaut haben.

Der Chip! Ich sollte ihn an einem bestimmten Punkt des Flughafens verstecken, aber ich habe Chip und Auftrag an Benni weiter geleitet, weil er unbedingt nach Tempelhof wollte. Er muss es vergessen haben, und jetzt ist die Reihe an mir, rot und blass zu werden.

„Komm!“, zische ich und ziehe ihn zur Seite. Schnell weg hinter den anderen, die zunehmend nervös auf den Monitor starren. „Was hast du mit dem Chip gemacht?“ „Vergessen, und dann sind wir so schnell abgereist, dass ich nicht mehr dazu kam, ihn hinzubringen.“ Er druckst: „Dann kam Karlchen zu Besuch, und ich wollte ihn bitten, ich... ich wusste ja nicht, dass es so dringend ist.“ „Hat er ihn?“

„N. . ..Nein, ich glaube nicht. Mehmet kam dazu, als ich ihn Karlchen gezeigt habe und wollte ihn auch sehn, weil er so schön glänzte.“ „Du hast ihm hoffentlich nichts erzählt.“

„Ich bin doch nicht blöd? Ich hab ihm gesagt: Och, das is nur so'n Chip fürn Einkaufswagen und hab' ihn weg geschnippt, damit er sieht, hat keinen Wert..“ „Und dann?“ „Nichts. Auf einmal war der Chip weg. Auch nicht da, wo ich ihn hin geschnippt hatte.“

„Ha! Mehmet die diebische Elster! Fliegt auf alles was glänzt. Wir müssen ihn anrufen!“

Und wir haben ihn daheim in Wuppertal angerufen, das heißt, Theo hat das übernommen, nachdem er unsere letzten Worte mitbekam und wusste, was die Uhr gerade schlug. Onkel Baldur über unsere Skype Verbindung natürlich auch. Er saß in seinem Sessel zusammen gesunken und raufte sich die Haare.

Bis auf Mehmeds Eltern lagen alle im Bett. Sein Vater war gleich am Telefon und ziemlich misstrauisch. Er wollte wissen, warum wir so spät anrufen, und Theo hatte einige Mühe, es ihm zu erklären, die Sache mit dem ganz besonderen Chip und dass sein Sohn uns vor einigen Tagen besucht hatte.

„Freunde von Mehmet?“ sagte Mehmets Vater und wir hörten ihn förmlich strahlen. Er spricht gut deutsch und hat gemerkt, dass wir ihn nicht verarschen wollten. Weckte tatsächlich seinen Sohn und fragte ihn, wo er den Chip gelassen hat. Mehmet: „Heut nachmittag im Einkaufswagen, unten im OBI-Markt. Blieb leider stecken und kam nicht wieder raus. Scheiße!“

Theo hat Mehmets Vater gefragt, ach was, er hat ihn angefleht, ob er ihm einen großen Gefallen tun könnte und mit Fotoapparat oder Ähnlichem zu diesem Baumarkt fahren. „Nicht auf den Parkplatz, nur in die Nähe. Auf dem Parkplatz könnte etwas Großes landen“. „Für Freunde von Mehmet immer“, hat Mehmets Vater gesagt und sich auf die Reifen gemacht. Wir sofort ins Internet, erst Wuppertal, dann den OBI-Markt suchen. Wir haben ihn in einem Randgebiet gefunden, Wuppertal Steinbeck mit einem Riesenparkplatz. Könnte gerade reichen, und wenn nicht, mitten in der Nacht ist niemand da. Was für ein Schweineglück. Noch mehr Glück, weil der Transport über den Chip etwas länger dauert als die Zielsteuerung über Plan A. Wenn Mehmets Vater sich beeilt, können wir die Landung miterleben. Und schon klingelt das Telefon. „Ich bin an der Steinbecker Meile, neben Parkplatz. Was jetzt?“ „Warten und Kamera vorbereiten. Großartiges wird geschehen!“ „Was? Eine fliegende Untertasse? Ein Raumschiff? Oh, Oh, ich werd' irre.“ Das ist Mehmet, der natürlich mifahren musste. Und da ist sie schon. Wir hören das vertraute PLOP, gefolgt von einem wesentlich unangenehmeren, Funken sprühenden Knirschen, wie immer, wenn Eisen auf Asphalt trifft. Die eiserne Lady ist gelandet, sozusagen mit quietschenden Kufen. Ganz hat der Parkplatz nicht gereicht, wie Mehmets Vater mit überschnappender Stimme erklärt, sich immer wieder mit einem beschwörenden „Bei Allah“ unterbrechend. Was er erklärt? Mit zwei Beinen steht die Dame in den Geschäftsräumen von OBI: ein klarer Fall von Ladeneinbruch. Auf der Spitze, am Ende des Sendemastes balanciert – man glaubt es kaum - ein Einkaufswagen der Firma OBI.

„Mehmet: „Das habe ich nicht gewollt.“ Macht nix.

Wie Onkel Baldur so schön gesagt hat: „Da macht euch keine Sorgen.“

Geld spielt für ihn keine Rolle.

Was ich jetzt berichte, ist nicht zu glauben, aber wahr. Seit 14 Tagen steht das unvergängliche Wahrzeichen von Paris, der Eiffelturm auf einem deutschen Parkplatz am Rande eines leicht beschädigten Baumarkts. Und dieser Parkplatz befindet sich nicht an einem geschichtsträchtigen Ort wie zum Beispiel dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof. Es gibt keinen Besuch der französischen Grande Dame in der Schwesterstadt Berlin. Kein Bienvenue La France à Berlin mit der Tricolore auf dem Kurfürstendamm. Nein, vorläufiges Asyl gefunden hat La Grande Dame de Fer in einem kaum bekannteren Ort als der Stadt, in der ich wohne. Vorläufiges Asyl gefunden hat sie in Wuppertal. Im Süden des Ruhrgebiets gelegen, 350 000 Einwohner, steile Hänge das enge Tal der Wupper entlang, darüber eine Kuriosität, ein weltweit vielleicht einmaliges öffentlichem Verkehrsmittel, die Wuppertaler Schwebebahn. Einmalig, wie sie gemächlich und fast unfallfrei an einem Gerüst hängend den Windungen der Wupper folgt. Übrigens Wuppertal ist die Stadt mit der größten Konfessionsvielfalt in Deutschland.

Man könnte auch sagen: Mehmet ist an allem schuld.

Mehmets Vater hat die Landung perfekt gefilmt, besser als sämtliche Überwachungskamera, und damit so gut verdient, dass seine Familie sich jetzt ein Haus am Stadtrand von Wuppertal leisten kann. Sein Kommentar:„Natürlich bleiben wir hier. Wir sind hier zu Hause.“ Die Filme vom plötzlichen Verschwinden des Eiffelturms und seiner Wiederverstofflichung auf einem deutschen Parkplatz wandern in Endlosschleife über alle Fernsehsender. Fast wie die brennenden Twin Towers von nine/ eleven. Mit einem Unterschied: die Terroristen haben zerstört. Wir haben gerettet. Mehmet und sein Vater erzählen ihre Version in verschiedenen Talkshows, dass beide vor Mitternacht nochmal zu OBI fahren mussten, weil Mehmet sein Portemonnaie bei den Einkaufswagen verloren hatte. Die spektakuläre Landung des Eiffelturms in diesem Augenblick? Reiner Zufall.

Vorher mussten sie Theo hoch und heilig versprechen, uns aus der Sache rauszuhalten. Also kein Wort von unseren Telefonaten, kein Tipp mit dem Baumarkt.

Beide: „Wir schwören bei Allah.“

Wir sind beruhigt.

Nur von der Erscheinung in Tropical Island gibt es keine offiziellen Aufnahmen. Wir halten sie unter Verschluss, bis wir

- Originalton Benni - „einen Batzen Geld damit machen können.“ Darum geht es doch meistens.

Von dem diplomatischen Gerangel habe ich noch gar nicht erzählt. Natürlich waren alle Franzosen von den Socken, als ihr Eiffelturm plötzlich verschwand und in der deutschen Provinz wieder auftauchte. „Wir waren das nicht, bei Allah“, beteuerten die zehn nackten Maulwürfe einstimmig, sichtlich genauso überrascht wie die französische Polizei. Die wildesten Vermutungen machten die Runde, vom Eingreifen des Allmächtigen, über fast allmächtige Aliens bis zu einer neuen russischen Tarnkappentechnik. Tenor: „Mit dem Sputnik haben sie uns damals auch kalt erwischt.“

Das Baumarktgelände samt Parkplatz ist seit zehn Tagen französisches Hoheitsgebiet, und die Zufahrtsstraßen werden streng kontrolliert. Alle warten jetzt auf ein Bekennerschreiben mit Forderungen, wie das bei Entführungen üblich ist. „Wir waren das nicht“ verkünden deutsche Regierungsstellen und die Ministerpräsidenten aller Bundesländer in einer gemeinsamen Erklärung. Schon am zweiten Tag nach dem Umzug. Großes Rätselraten, während alle auf das Bekennerschreiben warten. Wir wissen, warum es nicht kommt.

„Peinlich, peinlich“, der erste Kommentar des Onkels. Für Spitzbergen hatte er einen Aufruf an alle Völker der Welt vorbereitet. Tenor: Rettet das genetische Erbe der Erde. Für den Plan B Berlin, wollte er einen Appell an das ewig zerstrittene egoistische und doch zu so großen Leistungen fähige Europa senden. Aber Wuppertal? Ausgerechnet Wuppertal. Da fiel ihm so schnell nichts ein. Chinesen, die Menschenansammlungen unter fünf Millionen nicht für erwähnenswert oder gar für stadtwürdig halten – so unser chinesischer Reiseleiter vor einem Jahr – müssten den Ort mit der Lupe suchen. Vielleicht könnte Wuppertal als Vorbild für andere Städte dienen? Tenor: Wuppertal, wo sich alle vertragen. Aber tun sie das wirklich? Wir müssten mal bei der Polizei oder bei Bürgerversammlungen und in den Schulen nachfragen.

Kurz: Das erste Mal erleben wir den Onkel ratlos – bis ich mit der Lösung aller Fragen komme. „Warum es nicht machen wie bei Lessing mit seiner Ringparabel. Wir müssen den Leuten einfach Zeit geben.“ Also eine Verbindung von: empört euch und vertragt euch. Ob das zu machen ist?

Sämtliche Versuche, die eiserne Lady nach dem Vorbild altägyptischer Obelisken flach zu legen, um sich danach Gedanken über den Weitertransport zu machen, scheiterten. Wahrscheinlich sind Baldurs Schwerkraftmanipulationen dafür verantwortlich. Die eiserne Lady steht unbeweglich starr auf dem Firmenparkplatz einer deutschen Mittelstadt.

Bewegung kommt nur unter die Touristen. Wuppertal droht Paris in der Liste der meistbesuchten Städte den Rang abzulaufen. Nachdem die eiserne Lady weiterhin unverrückbar ausharrt, werden Zugänge und Treppen für zahlendes Publikum frei gegeben. Auch die Aufzüge nehmen nach Verlegung der notwendigen Zuleitungen wieder ihren Dienst auf, „und wenn der Zuspruch weiterhin so anhält, werden wir das Geschäftsergebnis des vergangenen Jahres toppen“, verkündet die Betreibergesellschaft. Ein anonymer Spender kommt für alle von der eisernen Lady verursachten Schäden auf, sowohl bei der Zwischenlandung im künstlichen Tropenparadies bei Berlin, als auch auf dem Ausweichziel nach Plan B, und alle fragen sich: Wer ist der Unbekannte? Was verbindet ihn mit der spektakulären Rettungsaktion des französischen Wahrzeichens und dem seltsamen Ortswechsel? Wir halten dicht und verfolgen die Diskussion weiter.

Die „Europäischen Freunde des Eiffelturms“ schlagen in einem international beachteten Appell vor, der unbekannte Retter möge La Grande Dame de Fer in diplomatischer Mission durch alle europäischen Hauptstädte schicken, eine großartige Geste zur Stärkung des Europagedankens. Beginnend mit London. Besser Edinburgh. Oder doch London? Lauter gute Vorschläge, unterstützt von einer überaus erfolgreichen online Petition. Aber wie umsetzen? Die Lady rührt sich einfach nicht vom Fleck.

Alle Besucher rühmen die phantastische Sicht von den Aussichtsplattformen. „Im Westen Düsseldorf, im Süden Köln und natürlich der Rhein, im Norden das Ruhrgebiet. Bei Nacht ein einziges Lichtermeer bis zum Horizont. Bei Tag im Süden und Osten die bewaldeten Mittelgebirge. Hoffentlich müssen wir ihn nicht so schnell wieder hergeben.“

So die einen. „Hoffentlich kriegen wir ihn bald zurück“, die anderen. Der Onkel brütet über seinem Einsatzplan: Der Rücktransport soll keine Schäden verursachen, den Verursacher nicht verraten und gleichzeitig eine bleibende Botschaft vermitteln. Aber welche? „Hoffentlich kein langes Manifest sagt Jenny. „Das liest kein Schwein. Kurz und treffend muss es sein.“ Ich verstehe: In der Kürze liegt die Würze.

Gestern ist Onkel Baldur zu einem Ergebnis gelangt. Rechtzeitig zum französichen Nationalfeiertag soll La Grande Dame, wieder zurück auf ihren angestammten Platz. Eine entsprechende Ankündigung flattert aus dem Nirgendwo ins Büro des Präsidenten der Republik mit der Bitte, das Marsfeld vorzubereiten. Mit entsprechendem Sicherheitsabstand für die Menge der Neugierigen. Der Wuppertaler Stadtrat erhält ein ähnliches Schreiben. Verabschiedet wird der hohe Staatsbesuch in der Nacht zum 14. Juli.

Wuppertal. Paris. Berlin. London. New York. Moskau, Peking, usw. usw. Ich kann euch sagen, da war was los: ein Weltereignis. Journalisten aus aller Herren Länder lungerten sowieso seit mehreren Wochen hier herum, seit der letzten Ankündigung ging's zu wie bei 'ner Fußball WM, ach was, viel schlimmer. Wuppertal platzte aus allen Nähten, alle Hotels und Privatzimmer ausgebucht, und in Paris wetteiferten mehrere Empfangskommitees, La Grande Dame de Fer würdig zu empfangen. Abschied und Wiedersehn wurden von zeitlich abgestimmtem Feuerwerk begleitet, und natürlich auf allen Fernsehkanälen und auf Riesenleinwänden übertragen.

Volksfeststimmung.

Der Transport erfolgte auf bekannte Weise, für uns nicht neu, aber der Rest der Welt staunte, als die eiserne Lady sich in einem metallisch sirrenden Wirbel von ihrem Asyl verabschiedete und wenig später mit einem Plop punktgenau auf dem Marsfeld landete. Ganz Paris tanzte.

Ich durfte ihre Heimkehr vom Labor meines Onkels verfolgen. „Eine Kleinigkeit fehlt noch“, sagte er und drückte eine Taste. Die Kleinigkeit war eine sorgfältig gefaltete blau-weiß-rote Leinwand, ein Riesenpaket in den Farben der Tricolore auf seinem Labortisch. Sie verschwand vor unseren Augen, um sich unmittelbar darauf von der zweiten Etage des Turms bis wenige Meter über dem Boden zu entfalten. Da stand in riesigen Lettern eine Botschaft und eine unmissverständliche Warnung:

Ne me touchez pas! Ne touchez pas ma ville!


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