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Alles gelogen (2)


2. Kapitel

Meine verrückte Familie

Onkel Baldur! Der Lichtbringer. Höchste Zeit, dass ich etwas über ihn erzähle. Er ist das Genie in unserer Familie. Nichts gegen unsere Eltern, aber wenn's um Erfinden geht, da kommt kein andrer mit. Ich finde, er wäre längst reif für den Nobelpreis, aber irgendwie dreht er es immer hin, dass ihn das Komitee vergisst. Wahrscheinlich, weil sie ihn gar nicht kennen; denn am liebsten erfindet er inkognito. Oder sie sind sich nicht einig, wofür er ihn am meisten verdient, weil er so vielseitig ist. Ein Allroundgenie, wie es ihn seit Leonardo da Vinci und Leonardo di Caprio nicht gegeben hat. Damit ich etwas mehr über ihn erzählen kann, muss ich weiter ausholen. Onkel Baldur wurde 1960 in der DDR geboren, wie Vater zehn Jahre später auch. In eine Familie von Wissenschaftlern. Da ist der Lebensweg vorgezeigt: steile Schulkarriere, natürlich Mitglied bei den jungen Pionieren und FDJ, interessanterweise nie bei der Partei. Dafür nach dem Studium Forscher in der Akademie der Wissenschaften, im Manfred von Ardenne Institut - und forscht und forscht und forscht. Ich glaube, er hat sein Leben lang nichts andres gemacht. Ach ja, geheiratet. „bildschön und blitzgescheit war sie,“ wie Theo sagt, wenn die Rede auf Isis kommt, „die Verbindung von Abendland und Morgenland“. Wegen der Namen. Isis ist eine ägyptische Göttin und Baldur der germanische Lichtgott. Gegensätze ziehen sich an, und wenn man Urlaubsfotos von der Ostsee trauen darf, passten sie auch zusammen: Sie ist darauf so dunkelhaarig und braun gebrannt wie er blond und hellhäutig. Vielleicht hat er slawische Wurzeln, und sie stammt von einem römischen Legionär zur Bewachung des Limes ab. Wir sind eben seit 2000 Jahren eine Einwanderungsgesellschaft und insgesamt gut damit gefahren. Jedenfalls wenn ich die beiden auf dem Foto sehe. Theo denkt meist weiter, seine Miene verdüstert sich, wenn der Name Isis fällt. Dann sagt er „schlimm, schlimm,“ oder in Gedanken „ja, ja“ und nimmt abrupt die bisherige Tätigkeit auf. Und das war's dann. Jedenfalls meistens: Manchmal ist er gesprächiger und ich erfahre: Er hat Isis bereits auf der polytechnischen Oberschule kennengelernt, bevor sie auf ein Sportinternat wechselte. Während sein Geist sich für eine wissenschaftliche Karriere vorbereitete, wurde ihr Körper für Weltmeisterschaften und Olympiasiege umgeformt: tägliches stundenlanges Training, ausgeklügelte Nahrungszufuhr und natürlich die Tabletten. Sie verloren sich nie ganz aus den Augen; doch jedes Mal,wenn sie sich in den Ferien trafen, erschien sie ihm dünner und jünger: ein viel versprechendes Nachwuchstalent in der Nationalmannschaft. Sie träumten. Gemeinsam würden sie zu den großen Sportveranstaltungen und wissenschaftlichen Kongressen im Westen fahren, zum Ruhm ihres Staates. Die Träume erfüllten sich nicht. Während Baldur eine Mathematikolympiade nach der anderen gewann, erkrankte Isis, wurde von Fieberschüben, Schwächeanfällen und Schmerzen überfallen, unfähig die erwarteten sportlichen Leistungen zu bringen. Man musterte sie aus, und eines Tages fand sie sich wieder an seiner Schule, bedrückt und voller Selbstvorwürfe, weil sie die Hoffnungen der Gesellschaft enttäuscht hatte. Sie heirateten früh, um eine der knappen Wohnungen in der Platte zu bekommen. So hießen die neuen Wohnblöcke aus vorgefertigten Bauteilen. Eine Trainerausbildung für die Nationalmannschaft verweigerte sie. Wahrscheinlich wegen der Pillen, die sie für ihre Schmerzen verantwortlich machte. Die Staatssicherheit, genannt Stasi, hatte sich längst für die beiden interessiert, vielleicht nach einer leichtfertigen Bemerkung über Doping, von einem IM überbracht. Vielleicht auch wegen ihrer Eltern. Keine fortschrittlichen Arbeiter und Bauern, sondern Angehörige des dekadenten Bürgertums. Das war Anfang der achtziger Jahre. Um ihre Flucht oder Übersiedlung vorzubereiten hatten die Eltern Schmuck und Antiquitäten in den Westen schicken wollen. Wie naiv. Natürlich flog das Unternehmen auf. Alles futsch: vom DDR-Zoll beschlagnahmt und für dringend benötigte Devisen in den Westen verkauft. Da gab es sogar einen Fachmann für solche Devisengeschäfte, der kurz vor der Wende noch Kredite für die klamme DDR aushandelte. Wie sagt Theo: Wen die Stasi im Visier hatte, den ließ sie so schnell nicht los. Für Isis und Baldur war es erstmal vorbei mit den gemeinsamen Reisen, noch ehe sie richtig begonnen hatten. Mehr: Während er internationale Kongresse und die Industriemesse in Hannover besuchen durfte, musste Isis daheim bleiben: seine Rückkehrversicherung. Seine wissenschaftliche Arbeit war für die DDR zu wichtig geworden, und seine Nichtmitgliedschaft bei der Partei machte ihn verdächtig, vor allem wenn er am Arbeitsplatz sang: Die Partei, die Partei, die hat immer recht, und Genossen es bleibet dabei; denn wer kämpft für das Recht, der hat immer Recht gegen Lüge und Ausbeuterei.

Das haben sie als besonders perfide Form von Kritik gedeutet. Typische Paranoia oder Verfolgungswahn der Mächtigen. Dabei stand es auf vielen öffentlichen Gebäuden. Hat mir mein Onkel gesagt. Aus Protest gegen die Zumutungen der Gegenwart studierte er nebenher Altphilologie, so sehr fühlte er sich gegängelt. Irgendwann sah er keinen anderen Weg, als zusammen mit Isis die DDR zu verlassen. Natürlich heimlich; für einen Ausreiseantrag gab es keine Chancen. Seine jüngste Erfindung half ihm dabei: ein Gerät, mit dem er die Signalanlagen an der grünen Grenze außer Funktion setzen konnte, ein zweites, um aus größerer Entfernung ein Loch in den Zaun zu brennen. Für die 5km-Zone besorgte er natürlich einen Passierschein.

Es hat nicht geklappt.

Ausgerechnet an diesem Abend sind sie auf eine außerplanmäßige Streife mit Hund gestoßen und wurden verbellt. Ob sie den Befehl „Halt! Stehen bleiben!“ in der Aufregung überhörten oder ob zu schnell geschossen wurde, konnte nachher nicht mehr eindeutig geklärt werden. Isis erhielt einen Bauchschuss, der sie über Monate ans Krankenbett fesselte, und danach war nicht mehr an einen zweiten Fluchtversuch zu denken. Theo: „Du kannst dir vorstellen, was in Baldur vorging? Sein Schmerz und seine Wut. Wenn er die Grenze nicht überwinden konnte, wollte er sie wenigsten zerstören. Seine Rache am System, das ihre Gesundheit zerstört hatte. Er besaß die Mittel dazu, aber frag mich nicht wie. Frag ihn. Es ist ein Geheimnis und seine Aufdeckung könnte dazu führen, dass wir die Geschichte des Mauerfalls umschreiben müssten. Ach was, die ganze jüngste Geschichte. Wie gesagt: Frag ihn. Aber sprich nicht mit ihm über seine Frau, und frag ihn besser auch nicht zu seiner Tochter.“ Ende der Rede. Theo ließ sich kein Wort mehr entlocken, und ich habe Baldur gefragt. Das was ich fragen durfte. Das war vor genau einem Jahr, und wir standen beide auf der Terrasse seines Hauses. „Sprich leiser. Wie alt bist du? 15?“ Baldur sog nachdenklich an seiner Pfeife, stieß den Wasserdampf aus. Was er da rauchte, war kein üblicher Tabak aus einer üblichen Tabakpfeife. Seine Pfeifen funktionieren nach dem Prinzip der E-Zigarette, von ihm selbst entwickelt, nachdem er vom Rauchen nicht lassen konnte, also eine Art Shisha oder Wasserdampfpfeife. Baldur: „Hilft beim Denken“, und „Kann man dir ein Geheimnis anvertrauen? Ja? Dein Vater behauptet, du seist der Vernünftigste von euch Dreien, und ich brauche Unterstützung. Nun gut. Wir besprechen das am besten im Haus.“ Ich erinnere mich genau an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen: Es ist das zweite oder dritte Mal, dass ich ihn in seinem Haus besuche. Das Haus verschwindet fast hinter einer hohen Ligusterhecke, der Eingangsbereich ist durch Kamera und Lichtanlage und wer weiß was noch gesichert. Seit 1991 wohnt er hier am Rande des Kiefernwäldchens. Beim Spazierengehen kommen ihm die besten Ideen behauptet er. Nach der Vielzahl seiner Ideen zu urteilen, wird er oft spazieren gehn. Bisher habe ich nur sein Wohnzimmer mit der großen Bücherwand kennen gelernt. Heute führt er mich hinab in den Keller, schaltet zweimal eine Lichtschranke aus – ich hoffe, hier ist kein unterirdisches Fallensystem angelegt – und öffnet die Tür zu seinem Labor: Ich sehe Monitore, zwei Computer, einen Drucker, das große Regal mit allerhand technischem Gerät, ein kleineres mit beschrifteten Glaskolben, der Inhalt undefinierbar. Sieht stark nach Chemie aus. An der Fensterwand ein Abzug mit Erlenmeyerkolben und allem, was man für chemische Experimente braucht. Ich zeige auf eine klobige Maschine in der Mitte des Raums. „Sieht aus wie ein 3-D-Drucker.“„Es ist ein 3-D-Drucker. Unverzichtbar zur Produktion meiner Arbeitsmittel.“ er weist auf das Regal mit dem technischen Gerät.“ „Und dort steht ein Materiewandler. Der Prototyp stammt aus den achtziger Jahren. Zerbröselt jeden Beton, wenn man ihn richtig einstellt. Sogar aus größerer Entfernung. Wie weit? Damals bis zu zwei km. Da sieht niemand einen Zusammenhang zur Mauer.“ Er lacht, zuerst sarkastisch, dann höhnisch; sein Gesicht verzerrt sich mit einem Mal und aus dem Hohn wird blanker Hass. „Das haben sie davon, sie mussten zahlen, für das, was sie Isis angetan haben, für all die Schmerzen. Es ist mein höchster Triumph bis zum letzten Atemzug. Warum haben sie uns nicht gehen lassen?“

"Ich weiß, Theo hat mir erzählt, dass sie Euch bei einem Fluchtversuch geschnappt haben.“

„Nur geschnappt? Nein, sie haben ohne Warnung, kaltschnäuzig auf uns geschossen. Dafür mussten sie zahlen. Alle. Nicht nur die Schützen. Die ganze politische Clique. Ich werde es dir erzählen, aber du musst mir versprechen, den Mund zu halten. Hörst du? Kein Wort darüber, weder zu deiner Familie, noch zu Freunden oder irgendwelchen Journalisten. Ich will in Ruhe weiter forschen und nicht durch die internationalen Medien gezerrt werden. Versprochen?“

„Heiliges Ehrenwort."

„Du weißt ja, wie der sogenannte antifaschistische Schutzwall zur sogenannten Deutschen Demokratischen Republik gesichert war.

160km die Mauer rings um Westberlin, über 1400km Grenze von Norden nach Süden, wo sich jetzt das Grüne Band erstreckt. Viele Häuser, ganze Ortschaften haben sie zerstört bei der so genannten Aktion Ungeziefer, dem Boden gleich gemacht. Dann die gestaffelte Grenze: die 5-km Zone nur für Anwohner mit Passierschein; Stacheldraht, Wachtürme, Metallgitterzäune, elektronische Alarmsysteme, Minen, Selbstschussanlagen, der taghell erleuchtete Todesstreifen, Hunde an Laufleinen.“ Er hält einen Moment inne, wie außer Atem, sammelt sich. „Kennst du die Dienstanweisung vom 1.10.1973? Ich habe sie auswendig gelernt für alle, die es nicht glauben wollen:

Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen.

Hörst du? Mit Frauen und Kindern! Sowas darf nie wieder bei uns geschehen. Sie haben auf Isis geschossen, sie schwer verletzt. Danach war sie nicht mehr dieselbe. Aber ich habe es ihnen heimgezahlt. Das erste Mal am 1. Dezember, das war der Tag der Grenztruppen, feierlich mit Paraden und dem ganzen Brimborium. Und dann kommt die Meldung. Am Spandauer Forst und bei Henningsdorf sind große Löcher in der Mauer, der Beton dazwischen weich wie Biscuit. Ich habe die Berichte verfolgt, auch den Funkverkehr der Grenztruppen. Natürlich kam nichts in den öffentlich zugänglichen Medien, dafür umso mehr auf den geheimen Kanälen. Helle Aufregung, aber sie haben dicht gehalten, keine Meldung drang nach außen. Das muss man der Stasi und ihren Ablegern lassen. Wie dicht das Netz funktionierte, habe selbst ich nicht gedacht. Der Westen schon gar nicht. Da ich mich überall einschalten und mithören konnte - für mich kein Problem - wusste ich, wo sie ihre Truppen massierten, um die Grenzverletzer auf frischer Tat zu ertappen, an einen Einzelnen dachten sie nie. Ha! Ich verlegte meine nächsten Aktionen ans andere Ende. Erst nach Teltow, nach Schönefeld, schließlich Potsdam und das Brandenburger Tor.“

Er grinst böse: „Sie kamen mit dem Ausbessern kaum mehr nach. Über die Naivität des Westens wundere ich mich noch heute. Haben die nicht gemerkt, wie die Mauer zu bröckeln begann?“

Ich bin begeistert: „Das muss ich Isa erzählen und...“

„Musst du nicht, hast du dein Versprechen schon wieder vergessen? Niemand darf davon erfahren, sonst ist am nächsten Tag der Teufel los.“ „Aber der 9. November. Der Fall der Mauer.“ Ich lasse nicht nach.

„Ein bisschen plötzlich dank Schabowski, aber längst vorbereitet. Der innere Kreis hat strengstes Stillschweigen bewahrt, auch Schabowski. Wusste Bescheid bei der ominösen Pressekonferenz, hat vor Aufregung nur ein bisschen unglücklich formuliert. Hast du mal Bilder oder Filme gesehen von den Mauerspechten? Das ging viel zu schnell für den extra starken Beton. Glaub mir, die Mauer war längst aufgeweicht. Ich habe überall, wo ich konnte, den Apparat eingesetzt und die Molekularstruktur verändert.

Einige Tage noch und die ganze Mauer wäre zusammengesackt wie ein zu dünner Pudding. Stell dir die Blamage vor. Nun ja, eigentlich hatte ich den Showdown erst für Weihnachten geplant, aber erstens war die Technik neu, und ich hatte nicht genug Vergleichswerte. Zum zweiten hat das Politbüro in der Panik sich für die Vorwärtsverteidigung entschieden. Wie es ausging, weißt du ja. Also Mund halten.“

Nun, ich habe versprochen, den Mund zu halten und die wahre Geschichte des Mauerfalls nicht weiter zu erzählen. Darum meine Bitte, an alle, die dies lesen! Nicht weitererzählen! Der Onkel würde es mir nicht verzeihen. Schabowski als einer der wenigen Eingeweihten ist leider tot, so wie der ehemalige Staatschef und seine Frau. Ich kann sie nicht mehr fragen. Vielleicht würden sie mich auch belügen, und wir wären genau so schlau wie vorher. I c h lüge ja nicht. Eine Frage beschäftigte mich.

„Onkel Baldur. Eines verstehe ich nicht, wenn die Sache mit der Mauer geheim bleiben soll. Wofür brauchst du jetzt meine Unterstützung?“ Er hat es mir erklärt. „Der 9. November 1989 war nicht nur der Anfang vom Ende der DDR. Am 9. November wurde auch meine Tochter geboren. Renata Liberta, die wiedergeborene Freiheit.“ „Das ist ja phantastisch. Ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast. Das heißt“, jetzt stottere ich, „ d-das heißt, Theo hat mir nicht mehr dazu erzählt. Warum habe ich sie noch nicht kennen gelernt? Sie ist doch meine Cousine. Und wo wohnt sie?“ „Geduld. Du weißt, dass Isis bei der versuchten Republikflucht verletzt wurde und danach nicht mehr richtig gesund war. Sie hätte nicht schwanger werden dürfen, auch wegen der Dopingschäden. Tja, mein Junge, sie hat die Schäden weitergegeben. Renata ist nicht gesund. Über 6 Jahre haben wir alles versucht, sie zu heilen. Sie internationalen Kapazitäten vorgestellt. Vergeblich. Seit dem Tod meiner Frau lebt sie im Ausland. Sie verträgt das deutsche Klima nicht.“ „Wo lebt sie? Oh, und deine Frau ist tot? Das wusste ich nicht, niemand hat es mir gesagt.“ Ich verhaspele mich, möchte mich bei Baldur entschuldigen. Er sieht mit einem Mal so traurig aus, verbittert. Ich lege meine Hand auf seinen Oberarm: „Onkel Baldur...“ Jetzt bin ich auch traurig. „Schon gut mein Junge. Sie konnte das alles nicht verwinden, wurde depressiv, und dann die starken Schmerzen, gegen die kein Mittel half. Sie hat sich umgebracht. Ich habe danach meine Forschung auf medizinische Behandlungsmöglichkeiten konzentriert, die Arbeit am Materiewandler unterbrochen. Seit kurzer Zeit bin ich auf einer neuen Spur, aber dafür muss ich am Wandler weiter arbeiten, und ich brauche einen Helfer. Dich.“ Er erklärt mir das Prinzip des Wandlers, die Sache mit der mehrdimensionalen Raumfalte, in der man alles Mögliche verstecken kann. David Bohm heißt der Typ, der zum Prinzip eine Theorie entwickelt hat. „Aber grau ist alle Theorie. Ich arbeite an der praktischen Anwendung. Stell dir deinen e-mail-account vor. Du tippst Buchstaben ein, drückst die Sendetaste, und wenn der Empfänger stimmt, erscheinen sie nach der Reise durch ein elektronisches Medium wieder als Buchstaben auf seinem PC. So ähnlich, nur komplizierter ist es mit dem Wandler und seinen Zusatzfunktionen. Ich richte den Apparat auf ein Stück Materie, und wenn ich den Auslöser betätige, verschwindet sie. Schalte ich den Empfänger an, entweder sofort oder in einer Stunde, einer Woche einem Monat, verstofflicht sie am gewünschten Ort. Mit Hilfe des satellitengestützten Ortungssystems kann ich das Ziel genau bestimmen. Du kennst es. Global Positioning System, kurz GPS genannt.“ „GPS? Natürlich. Kein Navi ohne GPS.“ Richtig. Aber zurück zur Berliner Mauer. Die Löcher im Beton brachten mich auf die richtige Spur. Sie waren der Anfang, denn ich fragte mich lange, wo ist der Beton geblieben? Bis mir beim Studium David Bohms die Erleuchtung kam. Natürlich, die Raumfalten. Seitdem verstehe ich auch manche unerklärliche Zwischenfälle, von denen die Medien berichten. Der Eisklotz im Vorgarten, angeblich direkt vom Himmel gefallen, die Meteoriten über der Stadt. Und mehr: Wüstensand verdunkelt den Himmel über Europa, Fische regnen über dem Festland ab: unterschiedlichste Materialien, sie alle von einer Raumfalte ausgespuckt. Auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Was verschwindet nicht alles auf hoher See? Verschollene Frachtschiffe oder ganze Passagiermaschinen, dazu die unauffindbaren Alltagsgegenstände in vielen Haushalten, einzelne Handschuhe, Schirme; die auf Nimmerwiedersehen in der Waschmachine verschwundenen Socken. Glaub mir, das ist die ultimative Erklärung.“ In bescheidenem Ton: „Geholfen hat mir auch ein Wort des großen Philosophen Immanuel Kant: Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich unsere menschliche Schulweisheit nicht träumen lässt.“ Ich staune Bauklötze. Onkel Baldur ist wahrhaftig ein Genie. Und Privatgelehrter. Keiner weiß genau, womit er sein Geld verdient. Als Lehrer für Deutsch und Latein jedenfalls nicht. Theo sagt, dass die Brüder ihr Berliner Haus gut verkauft haben, und während die halbe Welt auf einmal nach Berlin wollte, sind sie nach Süddeutschland gezogen: Theo in unsere vom Krieg verschonte Stadt und Baldur nach Nürnberg. Warum weiß ich auch nicht. Aber wer weiß schon alles über Baldur. Er hat eine Stiftung gegründet und steckt da fast sein ganzes Geld rein, sagen meine Eltern: Es geht um seltene Krankheiten. Ich denke, bestimmt wegen seiner kranken Tochter. Außerdem verdient er ein Schweinegeld an der Börse. Wie sonst könnte er uns immer wieder eine Reise schenken.

„Hast du schon immer dein Geld mit Aktien verdient?“frage ich ihn. „Das“, ich mache eine unbestimmte Bewegung im Raum, „muss doch alles sehr teuer sein, und du bist Privatgelehrter, ohne richtigen Beruf. Sagt Theo.“

Er lacht, klopft mir auf die Schulter, wird plötzlich ernst.

„Du hast recht. Bevor ich den Tipp mit den Aktien bekam, ging es mir schlecht, auch wegen Isis. Ich brauchte Geld, aber wie du weißt, ist dein Onkel nicht auf den Kopf gefallen, und vor allem, er hatte mit den Verantwortlichen noch eine Rechnung offen. Sie schuldeten uns das Geld für den Familienschmuck und was sie an Wertsachen gestohlen hatten. Nicht nur für die beschlagnahmten Sendungen. Auch von der Hausdurchsuchung bei den Großeltern. Alle Dinge von Wert nahmen sie mit. Gegen wertlose Quittungen. Ich habe mir das Geld nach der Wende wieder geholt. Wie? Natürlich mit Grips und mit meinen Erfindungen.“ „Aber wie?“

„Ich kannte einige Wendebetrüger, habe ihre Konten manipuliert. Bis heute rätseln sie, wohin die ergaunerten Beträge verschwunden sind. Und weil es sich nicht um ehrlich erworbenes Geld handelte, konnten sie auch nicht den Verlust melden.“

„Einen Dieb bestehlen ist das nicht auch kriminell? Nur weil ihr ungerecht behandelt wurdet, durftest du dich da rächen?“

„Arthur, mein Junge, hast du noch nie von Robin Hood gehört, der sein Geld von den Reichen nahm, um es den Armen zu geben? Ich habe nichts anderes getan. Die Welt ist nicht gerecht, aber mit meiner Rache habe ich einige Ungerechtigkeiten beseitigt. Der Großteil des Geldes floss in meine Stiftung und hat vielen Menschen geholfen. Ende der Diskussion. Wir verändern jetzt die Zukunft.“

Und das haben wir getan. In Kiesgruben Sand und Rheinkiesel verschoben, zuerst nur wenige Meter, dann von einem Ende zum andern, schließlich punktgenau auf einen markierten Platz und in unterschiedliche Behälter, dank GPS. Und das alles ohne die geringste Anstrengung. Die Krönung war unser Garten. Jenny wollte schon lange Kiesbeete mit nur wenigen Pflanzen. „Macht weniger Arbeit“, sagte sie. Wir haben ihr die Arbeit abgenommen, vorher abgemessen, wohin die Steine sollten, die Maße auf den Wandler übertragen und von der Kiesgrube transferiert. Sie war begeistert. Ist auch billiger als vom Baustoffhandel. Das brachte mich auf die Idee, ob man damit nicht ein Geschäft aufziehen könne. Der Onkel lachte mich aus. „Artur, Artur, du bist naiv. Warum sollten wir uns mit Kies begnügen, wenn Goldbarren für uns auf der Straße liegen?“ Wie meint er das? Und dann Artur, Artur und dass ich naiv bin. Artur der Dichter und Träumer, das bin nämlich ich. Wird Zeit, dass ich auch mal was zu mir sage, nachdem ich einige Personen aus der Kernfamilie vorgestellt habe. Das Unglück begann mit meiner Geburt; 2000 zur Jahrtausendwende. Ich sollte Artus heißen, nach dem berühmten keltischen König, Artus mit den Rittern der Tafelrunde und dem heiligen Gral. Tolle Story, und den Namen Artus ausgedacht ht sich meine Mutter, so wie sie darauf bestand, dass Isa Isis heißen solle wie Onkel Baldurs Frau. Naja, meine Schwester heißt Isa und ich heiße Artur ohne h, so steht es in den Geburtsurkunden. Warum? Weil Theo nicht aufgepasst hat, als die Namen eingetragen wurden, zuerst bei mir, weil alle den Jahrtausendwechsel gefeiert haben, drei Jahre später bei Isa. Wahrscheinlich hat er sich gedacht, Artur mit oder ohne 'h', 'Isis' oder 'Isa' ist eh wurscht. Die Folge für mich: Als Kind musste ich mir immer wieder einen Spottvers anhören, den sie im Radio aufgeschnappt hatten. Wenn Artur träumt, wenn Artur träumt, dann hat er vieles schon versäumt, denn Artur ist ein Träumer. Dabei träume ich nicht. Ich denke. Wenn sie meinen, ich träume, stelle ich mir vor, wie ich das, was ich sehe und erlebe, beschreiben kann. Sich in Menschen und Situationen einfühlen und es im Geiste formulieren, während die andern meinen ich träume. Nach dem ersten Bestseller werden sie ihre Meinung ändern. Ich denke. Warum sonst frage ich, hätte mich Onkel Baldur ausgewählt, der größte Denker in unserer Familie?

*

„Das ist der Hammer!“ Benni hält den Wandler in der Linken. Dreht mit der Rechten am Entfernungsmesser, während er durch den Sucher schaut.

„Da! Den Lederstrumpf habe ich gerade vom Regal auf Deinen Schreibtisch transportiert. Pass auf, jetzt schicke ich ihn wieder zurück.“ Und ehe ich eingreifen kann, verschwindet der letzte Mohikaner, um im Regal zu materialisieren. Mein kleiner Bruder Benni. Wie konnte ich nur vergessen, den Wandler offen liegen zu lassen. Nein, ich habe ihn gut versteckt, so wie die ganze Zeit in Tunesien. Für Benni offenbar nicht gut genug. Bei Theo und Jenny klappt es mit dem Verstecken wenigstens. Sie schnüffeln mir nicht nach. Wahrscheinlich wollen die beiden sich nicht vorwerfen lassen, sie würden nach meinen Tagebuchaufzeichnungen suchen. Wirklich anständig. Aber soviel Anstand kennen Geschwister leider nicht. Schnüffeln in anderer Leute Sachen herum, nutzen ohne zu fragen fremde T-shirts, Fahrräder oder PCs. Neulich hat er sogar mein Passwort geknackt. Unsere Eltern sind seitdem überzeugt, Benni hat das Forschergen aus Theos Familie geerbt. Mathematische Begabung, wissenschaftlicher Ehrgeiz usw. usf. Bald sei die Anmeldung zu Jugend forscht fällig. Ich seh das anders: Wissbegier? Pahh! Ich nenne es schlicht und einfach Neugier. Für mich ist da kein großer Unterschied, ob er meinen PC für irgendwelche Spiele zweckentfremdet oder meine Geburtstagspralinen frisst. Keine Achtung vor der Privatsphäre. „Sei froh, sonst wirst du zu fett,“ seine einzige Reaktion. Leider hat er Recht; während er Spaghetti tellerweise in sich stopfen kann ohne 1 Gramm zu zunehmen, muss ich ständig auf mein Gewicht achten. Es fehlte noch, dass sie mich den fetten Träumer nennen. Aber Freud sagt ja, dass aus dem Verzicht die größten Leistungen erwachsen. Und das Wichtigste: mir vertraut Baldur mehr als Benni.

"Kluges Kerlchen, aber noch zu unreif," hat er erst kürzlich gesagt. Und jetzt? Was machen wir jetzt, nachdem er das Geheimnis gelüftet hat? Bedient den Wandler, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Vor allem, wie bringen wir es Onkel Baldur bei?

„Du Kröte! Woher weißt du, wie der Apparat funktioniert, und was hast du überhaupt in meinem Zimmer zu suchen?“ Er schluckt die Kröte ohne Protest; diesmal gibt es Wichtigeres auszuhandeln.

„Stell dich nicht an. In Tunesien haben Isa und ich dich mal beobachtet, wie du mit dem Apparat experimentiert hast. Wow, das mit dem Sand war 'ne starke Nummer. Außerdem ist vor mir kein Versteck sicher, solltest du wissen.“

„Isa weiß auch Bescheid? Die rennt jetzt sicher herum und erzählt es ihren Freundinnen. Und morgen weiß es die ganze Stadt.“ Jetzt schaut er mich so mitleidig an, wie das bei einem 11-jährigem Forscher gegenüber seinem 16-jährigen etwas minderbegabten Bruder nur sein kann.

„Hältst du uns für verrückt? Wir wissen doch längst, dass Onkel Baldur dahinter steckt, und wir wollen dabei sein. Isa und ich sind uns einig: Wir verpfeifen nichts und niemanden. Ehrensache.“

„Kannst du schweigen wie ein Grab?“ „Klar! Großes Ehrenwort. Gegen uns ist jedes Grab eine Schwatzbude!“ Er hebt beide Hände zum Schwur. Mit Isa gibt es keine Probleme. Sie hat längst begriffen, dass wir einer großen Sache auf der Spur sind, die unsere Eltern überfordern würde. Überhaupt komme ich derzeit gut mit ihr zurecht, vor allem, seit sie mehr altklug als zickig ist. In letzter Zeit ist sie sogar richtig hübsch geworden, mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen. Mütterliches Erbteil wie das freche Mundwerk. Beides steht ihr gut, und ich war schon dabei, wie ihr die Jungs nach gepfiffen haben.

„Scharfe Tussi“ hat Erkan gesagt. Ich: „Das ist meine Schwester!“

Darauf Erkan: „Ey? Und da lässt du sie im kurzen Rock laufen? Ich würde es meiner Schwester verbieten. Du bist der Älteste, du musst mehr auf sie aufpassen“. Eher könnte ich einen Sack Flöhe hüten als meine Schwester. Außerdem kann sie sich selbst gut wehren, habe ich auch schon erlebt. Keift los wie ein Marktweib, wenn ihr was nicht passt, und damit, dass sie einem Kerl, der ihr blöd kam, ihren Schirm über den Kopf gedroschen hat, musste sie eine Woche lang angeben. Nur schade um den Markenschirm: ein Geschenk von Tante Marga. Nach der Attacke ließ er sich leider nicht mehr zusammen schieben. Das mit dem Geheimnisse ausplaudern habe ich auch nicht ernst gemeint. Kurz, Isa ist eine Schwester, mit der man Pferde stehlen kann, und auch Onkel Baldur kann sich auf sie verlassen. Hätte ich vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten, aber manche Menschen ändern sich zum Besseren. Vielleicht bestehn sogar noch Chancen für Benni. Soviel zur Zuverlässigkeit meiner Geschwister. Etwas schwieriger war der Termin bei Onkel Baldur. Er schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf und nahm nochmals jedem von uns den heiligen Schwur ab, mit keiner Menschenseele über seine Erfindungen zu sprechen.

„Und du, Benjamin,“ mit strengem Blick zu Benni, „versprich mir, dass du nicht eigenmächtig experimentierst.“ Benni mit hoch erhobener Rechten:“ Ich schwöre!“ Dass er die linke Hand hinterm Rücken verborgen hat, bemerke nur ich. Daheim stelle ich ihn zur Rede: „Gesteh, du hast den Schwur abgeleitet; das war hinterfotzig.“ Seine Antwort: Ich schwör fränkisch. Ehrlich.“ Er schaut, als könnte er kein Wässerchen trüben, und ich frage mich: War das jetzt eine ehrliche Antwort? Isa und ich haben auch über das Problem Benni gesprochen und sind uns einig: Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen.

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