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VII. Heimaten

VII. Heimaten


1. Nach Grammatik und Sprachgefühl ist ein Plural für den Begriff Heimat nicht vorgesehen, für mein Lebensgefühl doch. Als Eisenbahnertochter, die mehrere Umzüge ihrer Familie mitmachte, behaupte ich sogar: Überall, wo der Zug hält, bin ich daheim.

Mit einer Ausnahme: Daheim war ich die ersten sechs Lebensjahre im Weserbergland, das Geburtshaus einsam am Rand einer Bundesstraße, 10km vom Bahnhof Rinteln ( was keine Katze das Erwachsenenalter erreichen ließ. Unser "Ja" auf die Frage: "Mögt ihr ein Kätzchen?" war gleichzeitig ein Todesurteil). Nachdem der letzte Erbe sich mit Renovierung und einem Partyservice übernommen hatte, die Scheidung nicht zu vergessen, übernahm es die Bank. Jetzt wohnt dort eine türkische Großfamilie.

Die Verwandten fortgezogen, das Grab der Großeltern inzwischen aufgelassen und neu belegt,; vielleicht wegen der fantastischen Aussicht zur Porta Westfalica. Also kein Grund mehr in Heimatgefühlen zu schwelgen...

Oder doch? Als meine Mutter seit Sommer 2004 totkrank ans Bett gefesselt war, schickte ich ihr fast jeden Tag einen Brief mit Erzählungen von unserer gemeinsamen Heimat. Sie starb kurz vor Weihnachten, bevor ich den Brunnen unserer gemeinsamen Erinnerungen ausgeschöpft hatte. Später mehr davon ...


Und jetzt?

Glücklich in Görlitz.

Wie erobert man eine Stadt?

Sie meinen, das kennen wir aus der Geschichte. Liegt die Stadt am Meer oder an der Mündung eines großen Flusses werden Schiffe eingesetzt, möglichst eine ganze Flotte. Piraten - z.B. die der Karibik- kennen sich da aus. Oder Wikinger, ein Met saufender, ungezügelter Haufen Männer, Vorbilder für Heldensagen und Filme. Gegenwehr zwecklos. So überwinden sie die stärksten Mauern, rauben Frauen und Kinder, die sagenhaften Schätze nicht zu vergessen.

Gebrauchsanweisungen für Städtebezwinger im europäischen Mittelalter fordern gut ausgebildete Bogenschützen, Rammböcke, Katapulte, sowie Pechfackeln: Fachwerk brennt gut.

Später kommen Kanonenkugeln, Granaten und Bomben hinzu. Geduldige Eroberer schließen einen Belagerungsring und hungern die Bevölkerung aus, kontrollieren Handelswege zu Wasser und zu Land. Damit verbunden meistens Raub, Mord und Totschlag. In jedem Fall Zerstörung. Viele Städte sind in Feuerstürmen untergegangen; mit allem Schönen, das sie enthielten; denn Schönheit hat selten vor Zerstörung und Tod gerettet. Eher der Zufall, wie bei jener fränkischen Stadt, die auf einer Karte lohnender Ziele vergessen oder falsch eingezeichnet wurde. Heute zählt sie zum Weltkulturerbe: Bamberg.

Mit Görlitz muss es ähnlich gewesen sein: weder bombardiert noch durch Soldaten auf dem Rückzug oder durch die siegreiche Armee zerstört. Dabei stand die Stadt auf einer Liste, so höre ich, sollte sturmreif geschossen und mit allen Mitteln des Kriegshandwerks erobert werden.

Warum Görlitz dies Schicksal erspart blieb?

Die Antwort: Ein letztes Mal opferte sich eine Stadt des niederschlesischen Sechs-Städtebundes für die andere. Der Vormarsch auf Görlitz stockte, weil Lauban (polnisch Luban) die Angriffe auf sich zog, bis das Kriegsende die Stadt vor der ihr zugedachten Zerstörung bewahrte. "Lauban putzt der Welt die Nase" lese ich. Ein Werbespruch aus der Vorkriegszeit für das Zentrum der noch jungen Papiertaschentuchindustrie.. Etwa Tempo? Ich weiß es nicht, könnte es nachforschend sicher erfahren. Erfahren auch, ob im polnischen Luban weiter Papiertaschentücher produziert werden.

Wenige Tage vor Kriegsende erfolgte die Sprengung des imposanten Neiße-Viadukts durch deutsche Einheiten: absolut unnötig. Auf deutsch gesagt: hirnrissig. Aber so war man damals, vor allem in Deutschland.

Wer wissen will, wie es mir im Görlitz der Nachkriegszeit ging, sollte unter den Reiseberichten mein Loblied der Stadt Görlitz lesen. Das Lob schließt mit der Ankündigung, mir eine kleine Wohnung in der Stadt zu suchen. Einiges ist seitdem geschehen, und hier bin ich! Seit einem Jahr Bürgerin zweier Welten pendelnd zwischen Franken und der schlesischen Lausitz.

Wie es soweit kam? Einem Ratschlag folgend probierte ich mein Glück 3x über ein Versteigerungsportal. Erfolglos, aber eine interessante Lebenserfahrung.

So funktionierte es: Das (kostenpflichtige) Portal informiert regelmäßig über demnächst anstehende Versteigerungen und das Mindestgebot.

Mein nächster Schritt: Anreise mit der Bahn, um die Immobilie herum schleichen (für den ersten Eindruck; rein darf man nicht) - übernachten in der (empfehlenswerten) Europa- DJH, und wenn das Angebot interessant erscheint, das Gutachten anfordern. In meinem Fall jedes Mal ca 80 Seiten stark für 29 €.

Die amtlichen Gutachten bieten zuverlässige erste Informationen, auch aufgrund der zahlreichen Fotos, sofern es sich nicht um Fotos der Nachbarwohnung handelt, weil das eigentliche Objekt versperrt ist, der Besitzer unauffindbar. Passiert öfter. Wer trotzdem ersteigert, muss mit unliebsame Überraschungen rechnen...

Ein teilweise renoviertes, nur zur Hälfte bewohntes Mehrfamilienhaus in der Nähe des Viadukts konnte ich gleich "abschreiben", egal wie billig. Mieser Zustand, Leitungen heraus gerissen, Gerümpel in den ehemaligen Toiletten zwischen den Stockwerken. Ich vermute, Kriminelle schleichen nächtens über das Viadukt und nehmen mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Das hieß für mich, keine 10% Sicherheitsleistung auf das Konto des Amtsgerichts zahlen, sondern auf die nächste Gelegenheit warten. Bei zwei Ein-Zimmerwohnungen, jeweils in Parterre habe ich mitgesteigert. Spannend. Die erste: gute Gegend, guter Zustand, war vermietet. Frage: Was geschieht mit dem Mieter, wenn ich selbst dort wohnen möchte und keine Sozialfaschistin bin? Folge: Ich habe nur halbherzig mitgesteigert und bin bald ausgestiegen. Meine Erfahrung: Beim Mindestangebot bleibt es nicht, schon weil anfangs die Vertreter der Banken und Immobiliengesellschaften mit bieten. Ohne eigenes Kaufinteresse – wir dürfen vermuten, warum. Irgendwann steigen sie aus, und zwei, drei Bieter „verkrallen“ sich in das Objekt der Begierde. Darum unbedingt eine persönliche Höchstgrenze setzen, vielleicht als letzten Anker vor dem Ziellauf eine magische Zahl, z.B. 22 222. Dann muss Schluss sein.

Nach dem 2. Versuch - ich war wieder rechtzeitig ausgestiegen - überreichte mir ein Herr seine Karte mit der Bemerkung: "Das war kein Schnäppchen. Bei Interesse rufen Sie mich an".

Natürlich ein Immobilienvertreter, und Recht hatte er: Das Haus war von Graffiti verunziert, der Besitzer nicht erreichbar, weshalb die Gutachter nur die Nachbarwohnung von gleichem Zuschnitt beurteilten (s-o.), die Fenster so blind, dass man nicht hindurch schauen konnte. Jene selbstbewusst auftretende Dame, die mich abhängte, muss sich gesagt haben: Fenster kann man putzen. -

Mich überzeugte das Verfahren nicht, weshalb ich die Makleranzeigen im Internet studierte und fündig wurde. So bin ich seit Anfang 2019 stolze Besitzerin einer 3-Zimmerwohnung, günstig gelegen am Rand der historischen Innenstadt. Tram und Bahnhof, Geschäfte sowieso sind zu Fuß leicht zu erreichen. Herz was willst du mehr?

Soweit die Geschichte meines Wechsels zwischen Ost und West, nicht vergleichbar den großen Umwälzungen, die nach dem Krieg im Osten erfolgten. Es war meine persönliche, ganz bescheidene Umorientierung, und nicht ich war es, die Görlitz erobert hat. Die Stadt hat mich angelockt und bezwungen, dass ich nicht anders konnte, als ihr zu erliegen.

Sich eine Stadt vertraut machen, wie geht das?

Für mich am liebsten zu Fuß. Als Eisenbahnertochter und überzeugte Bahnreisende habe ich unterwegs schon immer gerne zwei, dreistündige Aufenthalte zwischen zwei Zügen eingeplant. So geht es: das Gepäck ins Schließfach und ich beschwingt ausschreiten, das Vergangene hinter mir lassen wie der Erzähler des plötzlichen Spaziergangs (Kafka). Wenn ich am Bahnhof einer fremden Stadt eintreffe, wie vor einigen Monaten in Ceske Budowice (Budweis), verschmähe ich Bus wie Tram und erlaufe mir die Sehenswürdigkeiten. Beim Abschied haben die Stadt und meine Person einen hohen Grad an Vertrautheit erreicht, auf dem wir jederzeit aufbauen können.

Warum nicht auch in Görlitz? Die meisten Straßenzüge sind vorbildlich saniert; wo nicht, gibt es ein déjà vu mit der alten DDR, grau verhärmt, wie ich die Häuser bei meinen Besuchen vor der Wende erlebte.

Ganze Straßenzüge sollten abgerissen werden, denn neu bauen ist billiger als sanieren. Die Löcher für Sprengladungen waren 1988 schon gebohrt, und wer denkt dabei nicht an Ceaucescos wahnwitzige Pläne eines sozialistischen "Stadtbauerntums" für Rumänien, womit er eine in Jahrhunderten gewachsene Kultur vernichtet hätte. Für beide kam die Wende gerade rechtzeitig.

Zum Glück. Zum Glück auch standen für die Städte Ostdeutschlands Bundesmittel bereit und als i-Tüpfelchen für Görlitz fand sich ein anonymer Spender, der über viele Jahre jährlich eine Million zur Sanierung spendete, bis er gestorben war oder meinte: Es reicht. In jedem Fall bis heute anonym geblieben, wie in zahlreichen Görlitz-Büchern nachzulesen. Fragen lohnt nicht, weshalb auch ich es mir verkneife.

Manchmal riecht die Stadt nach Kohlefeuerung. Nicht von vergessenen Kohlelagern aus DDR- Zeiten stammt der vertraute Geruch - oh ich erinnere mich gut , genau so wie an den penetranten Gestank eines Reinigungsmittels, damals anzutreffen in allen öffentlichen Gebäuden der DDR -, nein, an kalten Tagen weht es aus der Schwesterstadt Zgorzelec herüber. Weit mehr als Deutschland ist Polen abhängig von seinen Kohlevorkommen und hat deshalb für die nächsten Jahrzehnte Sonderbedingungen ausgehandelt.

Die Sanierung.

Ortsfremde, solche, die noch nie in Görlitz waren - ja, es gibt sie noch - können sich nicht vorstellen, was es heißt, eine Straße entlang zu laufen und noch eine, und noch eine, ein Dutzend und mehr, dabei aus dem Staunen nicht heraus kommen über die architektonische Schönheit, vielgestaltige Pracht vergangener Epochen. Nicht nur die Glanzlichter von Ober- und Untermarkt meine ich, die Bauten aus Renaissance und Barock, Empire und Klassizismus, die prächtigen Fassaden aus der Kaiserzeit nicht zu vergessen. Es ist das Gesamtbild: lässt mich den Reichtum spüren, den Optimismus und das Repräsentationsbedürfnis über die Jahrhunderte, vielleicht auch ein Zuviel an bürgerlicher Selbstgewissheit, ja, Arroganz in jenen letzten Jahren vor dem 1. Weltkrieg.

"Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen." So hatte der deutsche Kaiser damals getönt. Er, der jene protzig-imposante Ruhmeshalle des Drei Kaisertums jenseits der Neiße bauen ließ. Dom Kultury - jetzt in Polen gelegen.

Zwei Kriege haben die Stadt verschont. Der Sozialismus hätte sie fast zerstört. So sehe ich es.

Der Ausflug zur Landeskrone war stets ein Familienfest: mit der Straßenbahn zur Endhaltestelle, dann gemeinsam den Anstieg bewältigen, Ehrensache selbst für den Ältesten, unsern Onkel Gustav mit über 80 Jahren..

Im Sommer 2014 bin ich allein unterwegs, laufe an der Neiße entlang, zum wieder entstandenen Viadukt. An den zerstörten Bau aus den ersten Nachkriegsjahren kann ich mich gut erinnern. Jetzt ragt er mächtig über mir auf, als hätte es diese Zerstörungen nie gegeben. Zur Straßenbahn frage ich mich durch und gelange vom Endpunkt - diesmal allein - hinauf auf den Stadtberg. Die Landeskrone ist ein ehemaliger Vulkan mit markantem Basaltgestein, so steht es im Reiseführer. Vom Aussichtsturm neben der Gaststätte schweift der Blick weit über polnische und deutsche Lausitz, Grenzen verschwinden, und Herden von Windrädern am Horizont zeigen an, es sollte auch ohne Braunkohle gehen. Zurück laufe ich die ganze Strecke entlang der Straßenbahn, vorbei an Vorortvillen, die Stockwerke der Gebäude allmählich ansteigend, je mehr wir uns dem Bahnhof nähern. Sommerliche Temperaturen, die Sandalen bequem; warum nicht laufen?

Ganz einverstanden waren meine Füße nicht mit dem Programm, und die Blasen überzeugen mich: Das nächste Mal mit der Straßenbahn.

Die Straßenbahn, immer zwei farbige Waggons, mal auf gelbem, mal auf blauem, rotem oder grünen Grund. Ich liebe sie, und sie gefällt mir immer besser, je öfter ich in Görlitz bin. Jedenfalls kenne ich keine schönere in Deutschland: die Konstruktion traditionell, man könnte ihr Alter auf 150 Jahre schätzen. Neu ist die Bemalung und ganz neu die Werbung für den Görlitzer Tiergarten: Ob Tibetdorf oder roter Panda - ich durfte sie bereits kennenlernen und wünsche Gleiches allen Besuchern der Stadt.

Unsere Fernsehteams, die verschiedenen deutschen Tiergärten regelmäßig einen Besuch abstatten, haben dieses Kleinod noch nicht entdeckt... Zeit meinen Beitrag zu leisten, damit sich das ändert.

Nochmals hinunter zur Neiße - Deutschlands Grenze zu Polen - und Görlitz somit seit 1945 die östlichste Stadt Deutschlands.

Wer heute noch fragt, warum das so ist, sollte sich kritischer mit deutscher Geschichte befassen.

Darum, weil Görlitz die östlichste Stadt Deutschlands ist, öffnet sie sich seit dem Wendejahr 1989 weit nach Osten. Bei meinem ersten Wiedersehen nach Jahren traf ich auf zwei Stadtfeste: das Görlitzer Altstadtfest mit vielfältiger Belustigung rund um das Riesenrad am Obermarkt und das Jakobyfest in der Schwesternstadt Zgorzelec am jenseitigen Ufer der Neiße. Beide bunt, heiter und gleichzeitig verschieden, aus unterschiedlichen Traditionen gewachsen.

Das östliche Neißeufer war in den Nachkriegsjahren für uns eine verschlossene Welt. Wie schrieb mein dichtender Onkel Kurt aus Penzig (Piensk) darüber: "Geh ich am Ufer der Neiße entlang, werd ich vor Sehnsucht fast krank, ..." und so weiter...

Ich hörte, in Zgorzelec wurden griechische Bürgerkriegsflüchtlinge angesiedelt und las erst kürzlich, dass über Jahre mehr Griechen als Polen dort lebten.

Abgesehen von offiziellen Freundschaftsbekundungen hatten sich die Bewohner beider Städte nichts zu sagen, lebten gleichsam Rücken an Rücken. Und jetzt, 30 Jahre nach der Wende?

Deutsche Jugendliche laufen schnell mal über die Europabrücke, eine Pizza holen, die drüben etwas billiger ist. Die Bürgermeister und viele Institutionen halten engen Kontakt, und Kinder lernen die Sprache der anderen Seite. Mich führte ein erster Weg ins Jakob-Böhme-Haus, wo mich die Fehler der deutschsprachigen Erklärung etwas irritierten. Warum hat man es nicht für nötig gehalten, einen Lehrer der deutschen Seite Korrektur lesen zu lassen? Jeder vernünftige Schriftsteller lässt seine Texte lektorieren, und trotz Französischstudium traue ich mir nach vielen Jahren sprachlicher Abstinenz keinen fehlerfreien längeren Text zu.

Nachdenken über das Glück

Was brauchen wir, um uns glücklich zu fühlen?

Ich frage Freunde und Bekannte und sammle die Antworten.Sie ähneln sich: gesund bleiben, Freunde treffen, lieben und geliebt werden, Zeit füreinander haben und sie sinnvoll nutzen, gemeinsame Unternehmungen, tägliche kleine Erfolgserlebnisse, die uns den Alltag versüßen, eine leckere Mahlzeit, ein heiteres Gesicht, das uns aus dem Spiegel anblickt, mit uns im Reinen sein und diese Selbstgewissheit auf andere übertragen.

Oder das:

Glück des Reisens (Exkurs). Von meinem Fensterplatz im Flieger die Landschaft unter mir ausgebreitet sehen. Über den Wolken schweben, wo die Freiheit grenzenlos sein soll. Auf dem Rad unterwegs sein, die Nase im Wind, den Duft von Wald und Wiese schnuppern, oder am Zugfenster vorbei wandernde Landschaften genießen; bequem im Liegewagen, irgendwo in Europa, in Asien auch oder Mexiko. In den Schlaf geschaukelt vom rhythmischen Rattern der Waggons. Zum Beispiel Sri Lanka, auf nächtlicher Fahrt im Schlafwagen zur alten Königsstadt Kandy, ein Minister im gleichen Zug. Polizeieskorte. Es war das Jahr 1981, wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkrieges und mein Bruder in Trincomalee im Jahr darauf - Sommer 1982 - mittendrin, mit unserem tamilischen Freud versteckt hinter einer Mauer, als der Mob durch die Straßen jagt und tötet, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. Ihm als Ausländer ist nichts passiert und er erreicht einen der letzten Flüge, bevor der internationale Flughafen geschlossen wird.

Auch eine Form von Glück. Andere tamilische Freunde hatten dieses Glück nicht.

Nach Görlitz fahren.

So viele Glücksmomente auf Reisen, mit allen Sinnen aufgenommen, um immer wieder in der Erinnerung aufzublitzen. Selbst die unangenehmen Ereignisse, Fremdheit, gefährliche Situationen wie ein Überfall auf den Malediven oder ausgeraubt werden in Mexico City, glücklich überlebt.

Sie bieten zumindest interessanten Erzählstoff.

Unvergleichlich.

Oder doch vergleichbar mit Fahrten mitten in Europa, z.B. der Fahrt zwischen Görlitz und Zittau vor 60 Jahren?

Eine Teilstrecke der Bahn verläuft bis heute auf polnischem Boden. Wegen der damals verschlossenen Abteiltüren, des uniformierten Wachpersonals empfand ich die Fahrt vor 60 Jahren als abenteuerlich fremd, fast bedrohlich.

Und jetzt? Im Zeichen Europas bilden Grenzen Brücken, Vorfreude schon beim Lösen der Tickets, die Fahrten selbst lesend und schauend verbringen, Notizen oder kleine Gespräche mit Mitreisenden. Eines Nachts im Liegewagen wachte ich auf und entzifferte das Ortsschild: Wroclaw. Soviel Geschichte in einem Wort.

Sinnen. Die Atmosphäre der kleinen und größeren Bahnhöfe aufnehmen. Nach Görlitz umsteigen in Erfurt oder Leipzig, dann Dresden für die letzte Etappe, manchmal über Berlin und Cottbus.

Kein Smartphon. Kein Tablet.

Also der reine Genuss, wenn alles klappt. Die Frage nach Heimat beantwortet sich von selbst: Für mich als Eisenbahnertochter ist Heimat überall, wo der Zug hält. Überwältigend der Anblick mancher Bahnhofshalle, als Bahnhöfe noch Tempel des jungen Industriezeitalters waren, z.B. die Eingangshalle in Dresden Neustadt, mir seit vielen Jahren vertraut. Sollte es meine Leser ins bayerische Hof verschlagen, rate ich: Wechseln Sie nicht nur die Bahnsteige, von einem Zug zum anderen, laufen Sie die 20 oder 40 Schritte zur großen Empfangshalle aus der Kaiserzeit. Welch unerwartete Pracht für das bescheidene Städtchen. Unvergesslich.

Zurück zu meiner Stadt Görlitz: Ankommen und den Blick hinauf wandern lassen zur Decke der Eingangshalle. Jugendstil. Dresden, Görlitz, Hof. In Deutschland kenne ich keine schöneren Bahnhofshallen (Nachtrag: Auch hier lohnt sich ein Blick über die Grenzen…).

Dann mit der Straßenbahn oder dem Rollkoffer die vertrauten Straßen entlang, Berliner Straße, Postplatz, am Theater vorbei, Demianiplatz. Sie alle begrüßen wie einen vertrauten Freund. Umfangreiche Bauarbeiten der vergangenen Monate erzwingen Umwege. Macht nichts, Hauptsache, ich bin zurück. Eine neue, in lila Farbtönen abgestimmte Bepflanzung überrascht die Heimkehrerin. Wie schön und beglückend, das volle Leben zu erfahren. "Trink o Auge, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt", so in einem Gedicht Gottfried Kellers. Kein religiöser, aber ein daseinsgläubiger Mensch. Wie ich von Tag zu Tag mehr...

Mein Gepäck stelle ich in der Wohnung ab und laufe zur Neiße hinunter, wandere über die Europabrücke ins polnische Zgorzelec und wieder zurück.

Das ist Europa. Alle, die Europa wieder abschaffen möchten und sich in einen Nationalstaat zurück träumen, in ein Elysium, das es so nie gab, - machen sie sich die Konsequenzen klar?

Da ist keine Wiederkehr.

Ich wandere weiter, zum östlichsten Restaurant Deutschlands und zum hoch aufragenden Viadukt, einige 100 Meter dahinter. Polen haben es in den 50-ger Jahren wieder aufgebaut, und inzwischen gibt es eine regelmäßige Verbindung zwischen Görlitz, Wroclaw und dem Hirschberger Tal.

Die Spiegelungen in der ruhig dahin fließenden Neiße: das reine Glück.

Zurück in der Stadt suche ich ein Café auf, schmecke schlesischen Mohnkuchen und Eierschecke. NB. Mein PC markiert das ihm unbekannte Wort Eierschecke als fehlerhaft. Offensichtlich ein Wessi...

Die östlichen Bundesländer sind bekannt für ihre Wurst- und Backwaren, schmackhafte Qualität selbst in den Zeiten des Mangels.

Wir rissen darüber Witze voller Anerkennung und Respekt: Hier würde die Wurst selbst mit Sägemehl versetzt noch schmecken.

Glücklich in Görlitz bei einem Kirchenkonzert, einem Theaterbesuch, oder wie an Heiligabend beim Orgelkonzert von 22:00 bis 23:00 Uhr. In der Peterskirche. Bestaune Hunderte von brennenden Kerzen, an Kandelabern und den beiden Weihnachtsbäumen, auf Simsen und Vorsprüngen entzündet.

Für mich ein Weihnachtswunde. Mehr, eine Offenbarung, als das elektrische Licht in der Kirche erlischt und der Organist Bach intoniert. Das alles, zusammen mit der Musik des Meisters versetzt mich aus dem Alltag in eine Welt außerirdischer Schönheit und Bedeutsamkeit..

Später, auf dem Heimweg in Gedanken.

Wann werden Stadthalle und Jugendstilkaufhaus wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung übergeben? Ich erinnere mich an Besuche aus frühen DDR-Zeiten, zusammen mit Verwandten, schließlich ein Konfirmationsgeschenk, von meiner Tante dort gekauft: ausgerechnet ein durchsichtiges gelbes Nachthemd. Sie schrieb: "Bei euch im Westen soll man sowas ja tragen." Nein!!! Nicht ein einziges Mal habe ich es angezogen..

So ist es mit über Jahrzehnte gewachsenen gegenseitigen Vorurteilen und Schubladen, in denen Wessis und Ossis bequem Platz finden…

Um beim Thema Glück zu bleiben, bzw. seiner Umkehrung - Nicht glücklich bin ich seit einiger Zeit über unübersehbare Zeichen der Vernachlässigung. Immer wieder nerven Hundehaufen in den Straßen der Stadt, nervt Unrat in den Vorgärten leer stehender Häuser (z.B. im Dezember 2020 in Blockhausstr. 4). Da gibt es bis zum Stadtjubiläum noch Einiges zu tun.

Unerträglich ist für uns, die wir Görlitz lieben, der Gedanke, dass es einmal heißen könnte: Koprophile aller Länder - Görlitz erwartet euch!

Höchste Zeit für eine Eingabe an Bürgermeister und Stadtrat (von mir bereits im Januar erfolgt )! Sollte demnächst keine Reaktion erfolgen, werde ich meine Eingabe an dieser Stelle veröffentlichen.

Vollkommenheit ist leider nicht von dieser Welt. Dabei war Görlitz so nahe dran. Schade....

...

Vollkommenheit ist leider nicht von dieser Welt (Görlitz Blockhausstr. 4 im Dez. 2020)

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