Alles gelogen (8)
8. Kapitel
Staatsaffairen oder Das Böse ist immer und überall
(EaV oder Erste allgemeine Verunsicherung)
„Lass mich, mein Junge, ich kann den Koffer alleine tragen.“
Er lässt den Rollkoffer nicht aus den Augen, gibt ihn nicht aus der Hand, rollt ihn nur auf glattem Grund, sorgt schließlich dafür, dass er bequem im Kofferraum liegt.
„Das sind hochkarätige französische Weine. Die vertragen keine Erschütterung.“ Ich weiß es besser. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht hat er Mauerspecht und Dublikator im Hotel zurück gelassen, nur den Transporter eingepackt. Ob er keine Angst hat, dass jemand die Geräte stiehlt? Nein, Baldur ist überzeugt, kein Fremder könnte die komplizierte Technik bedienen. Wenn er sich da nicht irrt...
Wir setzen die Restfamilie in Tropical Island ab; zum Glück ist Jenny diesmal dabei und kümmert sich um das Trio infernal Benni, Isa und Karlchen. Herr Haarig fehlt, will Theo heute zu seinem Kongress begleiten. Hauptsache nicht mit uns, dann ist mir alles recht.
Wir fahren weiter über Lübben in den Oberen Spreewald hinein. Seit dem 7. Jhdt. Heimat einer slawischen Minderheit und seit 1991 UNESCO-Biosphären Reservat.
„Vom Auto sieht es wie jedes andere Flachland aus“, mäkele ich. „Was soll daran besonders sein.“
„Warte ab, bis wir umgestiegen sind.“ Der Onkel scheint sich auszukennen. Hinter Lübbenau biegt er in einen von Rhododendren gesäumten Seitenweg, vorbei an Holzhäusern mit bunten Bauerngärten. Wir halten vor einem Haus mit schwarz gebeizten Wänden und grünen Fensterläden. Die Verlängerung des Dachgiebels bilden zwei gekrönte Schlangen. Schutzgeister aus dem Sagenschatz des Spreewalds. Das Garagentor steht offen, und ein Mann winkt Baldur zu. Wie einem alten Freund, und unser Autopilot dirigiert uns prompt hinein.
„Meine Garage“, sagt Baldur. Ich erfahre, dass er hier eine kleine Wohnung gemietet hat, zusätzlich einen Lageplatz für sein Boot. Es ist am Anleger hinter dem Haus vertäut, mit zwei wasserdichten Tonnen beladen und wartet auf uns. Ich bin enttäuscht. Keine Jacht, nur ein Kanadier mit zwei Paddeln, einem Zeltaufbau gegen den Regen und einem Akku für den E-Motor. Er erklärt mir, dass Motorboote auf den meisten Flussstraßen verboten sind und dass er eine Ausnahmegenehmigung für seinen Elektromotor hat. Was das heißt?
Baldur: „Wir paddeln die ersten fünf km, damit du dir eine Vorstellung von den Schönheiten dieser einzigartigen Landschaft machen kannst.“ Er öffnet den Rollkoffer, und gemeinsam tragen wir die Weinkiste ins Boot. Jetzt wird mir klar, warum er sie im Hotel so sorgfältig in Folie gepackt hatte. Nicht auszudenken, wenn die bunte Königin über Bord fiele. Es könnte ihrem Teint schaden... Er begegnet dem fragenden Blick des anderen mit breitem Grinsen: „Ein gutes Tröpfchen für einsame Stunden, für dich steht ebenfalls eine Flasche bereit.“
Alles hat er wie üblich perfekt vorbereitet, einschließlich der Windjacke und Sonnencreme für mich. Ein zweites Paar leichte Schuhe und Kleidung zum Wechseln stopfe ich in meine Tonne. Wir verabschieden uns von seinem Helfer oder Vermieter – bei Onkel Baldur weiß man nie Bescheid – und auf geht’s. Ich als Rudersklave vorn und der Onkel mit Weitblick und Erfahrung hinten als Steuermann.
„Ideales Paddelwetter, nicht zu warm, nicht zu kalt, so habe ich es gern.“ Der Onkel ist bester Laune; kein Wunder nach dem gelungenen Raubzug, oder sollte man besser von einem Bubenstück sprechen?... Es dauert nicht lange, und wir lassen Straßen und Gehwege hinter uns, paddeln in ein friedliches Zauberreich kleiner und kleinster Wasserläufe. Fließe heißen sie hier - vorbei an Wasservögeln, vorwiegend Enten und Schwäne mit ihren Jungen. Lustige Wollknäuel, die eifrig dem Elternpaar folgen. Vorbei an winzigen Ortschaften mit blühenden Gärten und Anlegesteg für das Hausboot. Manchmal kräht ein Hahn in der Ferne, sonst ist es still, Sonnenstrahlen spielen zwischen den Baumkronen, große Bündel gelber Wasserlilien blühen an den Ufern, manchmal auch gelb und weiß die ersten Teich- und Seerosen.
Ein ländliches Venedig, und wie in Venedig staken auch hier Fährleute die Touristen durch das Gewirr der Wasserstraßen. Touristen gibt es auf den Hauptfließen viele - zum Glück nur dort - und wie es scheint, alle bester Laune: Vielleicht haben sie schon etliche Schnapsfläschchen geleert, die in Körbchen für sie bereitstehen. Hier fahren keine Autos; sogar die Post wird mit dem Boot gebracht. Wir lassen die einzelnen Siedlungen hinter uns, fahren in den Hochwald, unserem Ziel entgegen. Inzwischen arbeitet kaum hörbar der Elektromotor, die Paddel liegen im Boot, und ohne die geringste Anstrengung nehmen wir Fahrt auf. Gegen Mittag steuert der Onkel ans Ufer, verzurrt das Boot an einer Baumwurzel, und wir halten Picknickpause. „Wir sind im Herzen des Biosphärenreservats. Nur noch zwei km bis zu meiner Biberburg. Du hast die Biberspuren sicher gesehen, lauter umgestürzte Bäume. Das ist typisch für ein Reservat. Nichts darf verändert werden, alles Urwald, und die Touristen kommen nicht so weit. Genau das, was ich brauche.“
Windstille. Unter zunehmend bewölktem Himmel fahren wir weiter, hören dem Vogelgezwitscher zu und überlassen uns den sanften Farben und Spiegelungen des Gewässers. Da ist die Biberburg! Sie wirkt verlassen, bildet keinen Damm über den Wasserlauf, liegt eher wie ein morscher, in die Jahre gekommener Kahn; vor Jahren am Ufer vertäut, sodass die Strömung kaum behindert vorbei fließen kann. Wir steuern das Boot unter tief hängende Zweige einer Tanne und werden unsichtbar. Eine schmale Rinne zwischen den Hölzern der Biberburg und dem Ufer nimmt das Boot auf. Ein natürlicher Hafen. Der Onkel schlingt das Seil um einen Baumstumpf und sagt: „Wir sind am Ziel.“ Hier? Ich will es kaum glauben. Wortlos räumt er ein Stück trockenes Holz zur Seite und geschützt von der verlassenen Biberburg, bedeckt von überhängenden Zweigen eines gigantischen Wurmfarns sehe ich ein verwittertes Schild, entziffere mühsam
Der Sozialismus siegt.
Die rote Schrift ist stark verwittert, kein Wunder nach fast vierzig Jahren.
„Aber wo..?“ ist der Eingang - will ich fragen.
„Hier!“ Das Schild schwingt zur Seite, wohl durch einen geheimen Mechanismus, und dahinter liegt eine Tür. Eine Stahltür, wie es scheint, schon wegen der Stabilität, aber die Oberfläche wirkt seltsam fremdartig, als hätte jemand eine neuartige Schutzschicht darüber gezogen. Ich kratze mit dem Fingernagel. Nichts. Mit meinem Taschenmesser. Auch nichts. „Warst du das?“ die Frage ist natürlich an Baldur gerichtet.
„Gut geraten. Ich habe die Tür mit einer Tarnkappe überzogen. Vernichtet jede Ortung. Der Stahl ist übrigens eine neuartige Legierung aus den letzten Kriegstagen. Bomben- und ortungssicher, wie der ganze Bau. Geheime Reichssache. Höchste Geheimhaltungsstufe während des Baus und auch danach. Später mehr darüber.“ Ein Nazibunker. Damit hatte ich nicht gerechnet. Baldur lässt mich nicht weiter grübeln.
„Jetzt müssen wir unsere Königin in ihr neues Heim schaffen.“
Er zieht einen Impulsgeber, tippt etwas ein, und Sesam öffnet sich, das heißt, die Tür verschwindet in der Wand.
Statt sofort durch die Öffnung zu schreiten oder mir den Vortritt zu lassen, stoppt er mich mit beschwörender Miene, deutet auf einen irisierenden Kreis in der Wand. Er weiß, was zu tun ist, nähert sich dem Kreis, legt seine linke Hand hinein, bis sich die Farbe in ein sanftes Grün wandelt. Waldgrün denke ich, wirklich eine passende Idee für dieses Versteck. Er beugt sich hinunter, bis der Kreis sich in Augenhöhe befindet. Das Waldgrün wechselt in Violett, und ein melodischer Gong ertönt. „Nun du. Dann können wir herein gehen. Merk dir, immer in dieser Reihenfolge; deine Merkmale habe ich vor einiger Zeit gespeichert.“ „Was passiert mit Unbefugten? Stürzen sie durch Falltüren und werden aufgespießt oder gegrillt?“
„Nein, die Tür schließt sich wieder, und sie kommen nicht rein. Reicht doch - oder haben dich irgendwelche Geschichten von Jägern verborgener Schätze verdorben?“
Natürlich bestehe ich die Identitätsprobe, und wir dürfen mit der Königin hinein. Als das Licht aufflammt, bin ich verdutzt: Wir stehen vor einem Fahrstuhl, die Tür schwingt auf, und wir schauen ins Innere: Überall glänzender Messing und an den Wänden Spiegel. Funkelnd und spiegelnd wie frisch geputzt. Was für ein eleganter Fahrstuhl denk' ich und - den kenn ich doch! So unwahrscheinlich es klingt - in dem gleichen Fahrstuhl bin ich schon gefahren. Um es genau zu sagen, in dem gleichen, wenn auch nicht in dem selben. Was Jenny wohl dazu sagen würde? Sie ist ja nie um Worte verlegen, wenn sie ihre Fassungslosigkeit ausdrücken will. „Da brat mir einer einen Storch“, sage ich, das ist ja der gleiche wie Hitlers Fahrstuhl zum Kehlsteinhaus.“ Inzwischen bin ich völlig verwirrt: Ein Lobpreis des Sozialismus vor dem Eingang, dahinter ein Nazibau aus den letzten Kriegsmonaten und ein Fahrstuhl, in dem sich der Führer heimisch fühlen sollte. Wie passt das zusammen? „Fahren wir hinunter. Für Erklärungen haben wir später Zeit.“
Unten erwartet mich die nächste Überraschung. Der Fahrstuhl ist im Wohnraum des Bunkers gelandet wie ein Raumschiff auf einem fremden Planeten. Wir schauen uns um: Baldur, um sich zu vergewissern, dass sich seit seinem letzten Besuch nichts geändert hat. Ich, weil es mein erster Besuch in einer realen Bunkeranlage ist. Auf eine moderne Wohnung hier unten war ich nicht gefasst; denn wie ein Bunker aus den letzten Kriegstagen aussehen muss, weiß ich aus Fernsehdokumentatonen: Unverputzte Versorgungsleitungen, winzige Räume, Warnschilder überall, einfaches Mobiliar, Feldbetten für die einfachen Volksgenossen. Bessere Einrichtung, Polstermöbel nur für die politische Clique an der Spitze; das beste für den „geliebten“ Führer: meterdicke Wände und ebensolche Decken gegen Angriffe von außen, alles zu seinem Schutz. Dieser Arsch. Baldur spricht und erklärt, während er die großzügig gestalteten Räume durchmisst. Ich immer hinterher: Mineralputz, helles Mobiliar, Designerteppiche, die technische Ausrüstung in Küche und Bad, Unterhaltungselektronik, letzter Schrei würde ich sagen. Bis auf einige alte Inschriften keine Spur mehr vom 1000-jährigen Reich auch nicht von der DDR-typischen Ausstattung: Resopal mit Spitzendeckchen.
Baldur: „Dieser Bunker war wesentlich komfortabler als der in Berlin, wo Hitler sich Ende April umbrachte. Man sieht es schon an den Abmessungen der Räume. Sonst ist nichts mehr von der alten Einrichtung vorhanden. Was die Parteibonzen der DDR sich nicht unter den Nagel gerissen haben, ließ ich nach dem Mauerfall entfernen, bis auf die alten Inschriften, teilweise in Sütterlinschrift oder in gotischen Lettern. Um der geschichtlichen Wahrheit willen.“
Ich: „Die Wolfschanze im ehemaligen Ostpreußen kennt fast jeder. Warum nicht das unterirdische Führerhauptquartier im Spreewald. Hat er es je bewohnt?“ Er schüttelt den Kopf.
„Ebenso wenig wie das Kehlsteinhaus, von dessen Räumlichkeit einiges nachempfunden war, einschließlich Fahrstuhl und einem riesigen Fotobild mit dem Alpenpanorama. Da hätte er sich seinen Weltmachtträumen hingeben können, während über ihm Europa in Flammen aufging.“ Seltsame Vorstellung.
So ist es mit Onkel Baldur. Er lässt mich auf meinen Fragen sitzen, und hinter jeder Antwort, die er mir gibt, tauchen neue Fragen auf. Ich gebe nicht auf. „Warum weiß niemand von diesem Bunker?“
„Weil er höchste Geheimnisstufe hatte: top secret, verstehst du? In der DDR-Führung hat man sich weiter dran gehalten, nur wenige waren eingeweiht, plus einige Wissenschaftler wie ich. Zufrieden?“
„Nein. Am Bau waren so viele Menschen beteiligt, Dutzende, Hunderte, dass einige bestimmt geplaudert haben. Ich verstehe das nicht. Oder hat man sie danach umgebracht?“
„In gewissem Sinne schon. Vergiss nicht die Zeitumstände und das Wesen der Nazidiktatur. Natürlich wurden Menschen für den Bau gebraucht, fleißige Arbeiter, die nicht weiter erzählen konnten, woran sie gebaut hatten. Ortsfremde, am besten ohne deutsche Sprachkenntnisse. Sie wurden bei Nacht und Nebel hierher geschafft, aus den KZs und Zwangsarbeitslagern überall im eroberten Europa.
Wussten nicht, wo sie sich befanden, bekamen nie den Gesamtplan und seine Zweckbestimmung zu sehen und wurden nach Fertigstellung zurück in ein KZ verlegt oder in Strafbataillonne an der Front – Überlebenschance minimal -, sofern sie nicht vorher den harten Arbeitsbedingungen erlegen waren. Ich behaupte keiner, der Genaueres wusste, keiner der Eingeweihten hat das Kriegsende lange überlebt. Schließlich sind in den letzten Kriegsmonaten mehr Menschen ums Leben gekommen, Zivilisten und Soldaten, als in den fünf Jahren zuvor. Die Anlage ist den Kommunisten wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, über eine geheime Botschaft des berühmt berüchtigten Meisterspions Sorge. Während des kalten Krieges wurde sie atomsicher umgerüstet, sollte als letzter Zufluchtsort für die Parteiführung und ausgewählte verdiente Volksgenossen dienen. Ich hätte dazu gehört, Isis nicht. Was deine Zweifel an der Geheimhaltung betrifft: Nachdem der ehemalige Parteisekretär und seine Frau tot sind, bin ich der letzte Überlebende, der diese Anlage kennt und beherrscht. Niemand sonst. Gibt es einen besseren Beweis für funktionierende Geheimhaltung?“
Von mir erwartet er gleiche Verschwiegenheit, sagt, es solle mein Schaden nicht sein; denn die Anlage berge noch manche Geheimnisse. Auf uns ruhe eine große Verantwortung. Wie meint er das? Er berührt den Sensor seines Steuergerätes, und wieder öffnet sich vor uns ein verborgenes Sesam. Diesmal eine echte Schatzkammer wie im Märchen aus Tausend und einer Nacht. Eine Bodenplatte schwingt zur Seite, und darunter funkelt es golden: Echtes Gold, in Barren gegossen und sorgfältig über- und nebeneinander gestapelt, nach meiner vorsichtigen Schätzung mindestens 500 Stück.
„Wow! Du bist ja Millionär!“
„Bloß Millionär? Jeder Barren hat einen aktuellen Kurswert von 20 000 Dollar, multipliziert mit der Anzahl und da liegen über tausend Goldbarren. Er streicht über eines der Goldstücke. „Woher ich das habe? Artur, mein Junge! Seit Kriegsende suchen sie das verschwunden Nazigold. In österreichischen Seen, in schlesischen Bergwerksschächten und sonstwo. Vor dir liegt es. Zumindest ein Teil davon“, schränkt er die Bedeutung des Schatzes ein.
Warum es nicht in die DDR-Wirtschaft geflossen ist? Bei deren bekannter Devisenknappheit? Ganz einfach. Weil sie es nicht gefunden haben. Zu gut von den Nazis versteckt.
„Wer es gefunden hat? Natürlich meine Wenigkeit.“ Oh, der Onkel gibt sich bescheiden. Das nennt man sein Licht unter den Scheffel stellen - steht irgendwo in der Bibel - oder fishing for compliments, und ich sage „Wahnsinn“.
„Nicht Wahnsinn sondern Genius“, verbessert er mich. Und ich verbessere mich ebenfalls: doch nicht bescheiden...
Er erzählt, wie ihn der 1. Generalsekretär und Staatschef persönlich mit der Kontrolle und Umrüstung der Anlagen betraute. Dabei habe er es gefunden und wieder unauffindbar versteckt. „Vergiss nicht: An Nazigold klebt Blut. Jetzt wartet es auf eine humane Verwendung. Zum Wohle der Menschheit.“
Wenn das so einfach wäre. Ich habe über das verschwundene Gold der Inkas gelesen. Vor dem Transport in die Heimat haben die christlichen Eroberer auf Cuba den „heidnischen Krimskrams“, wie sie es nannten: Götterbilder und Tempelzierrat zu handlichen Goldbarren geschmolzen. War für den Transport nach Spanien praktischer, wo es dann eine Inflation und Hungersnot auslöste, weil keiner mehr auf den Feldern arbeiten wollte, bei soviel Gold. Dass man Gold nicht essen kann, haben sie zu spät kapiert. Genau wie der sagenhafte König Midas, der sich gewünscht hatte, dass alles, was er berührte, sich in Gold verwandelte.
Im spanischen Bürgerkrieg 1938 soll sich die Regierung dafür sowjetische Bruderhilfe erkauft haben. Umsonst. Heute weiß keiner mehr, wo das Gold der Inkas geblieben ist. Der Onkel zitiert Goethe, Faust I:
Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles. Ach, wir Armen.
Dann sagt er: "Wir machen es besser.“ Hoffentlich.
Hier unten verlieren wir jedes Gefühl für die Zeit. Mir ist, als hätten wir keine Stunde im Bunker verbracht, als Baldur auf seine Uhr schaut und „Hoppla“ sagt. „Wir wollen vor Sonnenuntergang zurück sein. Die Zeit drängt. Allerdings vorher muss die Königin ins Magazin, und einen ersten Überblick über die Räumlichkeiten wollte ich dir auch verschaffen. Hilf mir tragen!“ Wir schleppen die Weinkiste durch einen Nebenraum, schieben gemeinsam ein Regal zur Seite und stehen vor einer Stahltür. Die Tür trägt in großen Blockbuchstaben die Aufschrift:
MAGAZIN WELTKULTURERBE
Zutritt nur für Befugte
Das wird ja immer spannender! Der Onkel betätigt seinen Impulsgeber, und die Tür gleitet auf stählernen Schienen zur Seite.
„Es werde Licht“, sagt der Onkel, und prompt wird es hell in der angrenzenden Halle. Voller Erwartung schaue ich - und bin enttäuscht. Kein Nibelungengold unter den Wassern der Spree, kein weiterer Piratenschatz aus den Raubzügen der Nazis. Oder doch? Mein erster Eindruck bis auf einige Ölgemälde und verschlossene Kisten entlang der Wände zeigt eine leere Halle. Aber die Halle ist mindestens 100 Meter lang und am anderen Ende sehen wir eine weitere Stahltür, dazu Türen zu beiden Seiten. Wie Zugänge zu einem Labyrinth.
„Da staunst du“, sagt der Onkel. „Nach den Aufzeichnungen gab es hier bereits große unterirdische Hohlräume, die man im Spreewald nie vermutet hätte. Naja, große Teile Europas liegen über natürlichen Hohlräumen, unterirdischen Seen, Bergwerken und Tropfsteinhöhlen, dazu kommen von Menschen geschaffene Gräben, Tunnel und Bunker, die gigantischen Produktionsanlagen und Bunker der Nationalsozialisten vor allem. Hinter den Türen dieser Halle erstreckt sich ein weit verzweigtes System. Wozu es jetzt dient? Um das Kulturerbe der Menschheit aufzunehmen. Es steht an der Tür geschrieben.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung wendet er sich zur Seite. „Maat-Ka-Re, Erste der Damen, ich grüße dich und bringe dir eine ebenbürtige Gefährtin“. Ich wende mich ebenfalls um und ...
„Aber das ist doch...“
„Hatschepsut“, vollendet er meinen Satz. „Glaubst du wirklich, ich hätte es bei dem Test belassen? Sie residiert hier seit fast einem Monat, nachdem ich sie mitsamt dem Sockel dupliziert und auf die Reise geschickt habe“.
„Aber das Original, äh, die Nr. 1 befindet die sich noch in ihrem Totentempel?“
„Frag mich etwas anderes. Zum Beispiel, warum ich das hier mache."
Er schließt die Augen, wohl um in seinen Erinnerungen zu kramen; heftet dann einen derart beschwörenden Blick auf mich, dass ich nur stumm zurück glotzen kann. Spricht feierlich, jedes Wort betonend.
„Es gab mehrere Auslöser. Auf die Idee hat mich erstmals die Geschichte mit dem auf Cuba eingeschmolzenen Inkagold gebracht. Ich war damals mit einer Regierungsdelegation unterwegs auf der Insel, wohlverdiente Abwechslung nach den offiziellen Terminen und Gelegenheit, mehr über Geschichte und Kultur zu erfahren. Stand erst am Anfang meines Forscherlebens und wusste nicht, wohin es mich führen würde. Tja, und dann führte es mich ins Haus des ersten Gouverneurs Velazques. Wer einmal vor der berüchtigten Goldschmelze gestanden ist - dort, wo unschätzbare Zeugnisse von Kultur und Religion zu reinem Materialwert verschmolzen wurden, wer selbst nur einen Funken von Respekt und Mitgefühl für fremde Kulturen und Religionen aufbringt, den fasst beim Anblick jenes verfluchten Orts ein unbeschreibliches Weh. So ging es mir. Verstehst du das, mein Junge? Dass so etwas nie wieder geschehen darf?
Die unersetzlichen Schätze unserer Erde vor ihrer Zerstörung bewahren, vor Erdbeben und Überschwemmung erretten, aber vor allem vor uns Menschen. Das ist die Aufgabe, die mir das Schicksal gestellt hat.“
Er holt tief Atem. „Zugegeben, ich war eine Zeitlang abgelenkt; andere Aufgaben warteten auf mich, interessante Projekte, dazu der private Kummer. Aber dann...“ er stampft heftig mit dem Fuß auf, „dann haben sie die Buddhastatuen von Bamyan zerstört, gesprengt, Ewigkeitswerte in Staub und Trümmer aufgelöst. Da wusste ich, mir blieb keine Zeit mehr.“
Fast bricht seine Stimme bei den letzten Worten, er räuspert sich, und ich staune. Das hätte ich meinem kühl kalkulierendem, manchmal zynischen Onkel nicht zugetraut, und ich beginne zu verstehen. Sein Name Baldur ist ihm Verpflichtung: Er will die Welt retten.
Oder wenigstens ihre bedeutendsten Kunstwerke. Der Onkel wischt über ein Feld seiner Fernbedienung, und überall flammt die Beleuchtung auf. Ich würde mir die zahlreichen Bilder an den Wänden, den Inhalt der Kisten gerne näher ansehen und erkenne überall Herkunftsbezeichnungen und Zuordnungen. Bei einigen überflüssig, die kennt jeder, wenn er nur ein bisschen Ahnung von Kunst hat. Einige Schritte weiter zu meiner Rechten ein Schild mit der Aufschrift LOUVRE und darunter das vielleicht berühmteste Bild der Welt. Leonardo da Vincis Mona Lisa. Nach den Erfahrungen der letzten Zeit erübrigen sich weitere Fragen. Oder? Dies ist die originale Mona Lisa, beziehungsweise das zweite Original, und ich wette, sie würde jeden Echtheitstest bestehen.
„Meine ersten Duplizierungen“, erklärt der Onkel, und er habe dazu ein Vorgängermodell eingesetzt, für zweidimensionale, flache Formate geschaffen, also vor allem für Gemälde, wie sie zu Zigtausenden in den Museen hängen, immer wieder Zerstörungen oder dem Verschwinden ausgesetzt: Diebstahl, Säureattentate, Feuersbrünste, Terror, verschwunden in den Banktresoren einiger Superreicher.
„Weißt du, dass mit den Twintowers auch mehrere unersetzliche Kunstwerke zerstört wurden, z.B. ein Modigliano. Ist dir der Name ein Begriff?“ Ich nicke. Natürlich, Modiglianos Frauenportraits, die mit den lang gezogenen Gesichtern, und eines davon für immer fort - nine eleven...
„Weiter drüben Dürer und Boticelli, nicht zu vergessen die Rembrandt-Abteilung, dahinter einige Van Goghs und französische Impressionisten. Alles noch in den Anfängen.“ Draußen warten unzählige Werke, die es verdienten, für alle Ewigkeit aufbewahrt zu werden. Wie er fürchtet, zu viel für die vorhandenen Räume unter dem Spreewald. Er schüttelt den Kopf: „Das ist der Fluch unseres unersättlichen Reichtums: Zu viel ist nicht genug.“ Er öffnet einen Wandschrank mit zwei verkabelten Rollern, offenbar eine Art Ladestation.
„Bedien dich! Schließlich wollen wir hier nicht den großen Wanderschein machen“, schiebt mir einen der beiden Elektroroller zu, ehe ich antworten kann. „Los geht’s! Ich will dir wenigstens die nächsten Hallen zeigen. Baldur voran flitzen wir zur gegenüber liegenden Tür, die sich wie von Geisterhand öffnet. Wahrscheinlich hat ein Sensor uns als Befugte identifiziert. Und weiter geht’s.
Im nächsten Raum herrscht gähnende Leere.
Im übernächsten steht das Brandenburger Tor.
„Wahnsinn“, sage ich. „Nicht Wahnsinn, sondern Wissenschaft“, sagt der Onkel. Das Brandenburger Tor samt Quadriga und Siegesgöttin hat er mit seinem Molekularverdichter auf zwei Meter Höhe verkleinert und mit seinem Schwerkraftmodulator den hiesigen Verhältnissen angepasst. „Leider nicht patentiert, man will ja keine schlafenden Hunde wecken“. Das ist typisch für meinen genialen Onkel.
„Noch viel zu tun“, murmelt der Onkel. „Vor allem den Landeplatz für meinen Mauerspecht vorbereiten.“ Gesagt getan. Eine seiner kleinen Metallplaketten legt er neben das Brandenburger Tor: „Bereit zum Empfang.“ „Fast wie eine Euro-Münze“, versuche ich einen „Scherz, „könnte direkt in einen Einkaufswagen passen. „Besser nicht“, brummt der Onkel. „Heute abend schicken wir ihn rüber.“
Auf meine Frage, wie er ein zwei Meter hohes, wegen der Materieverdichtung bestimmt sauschweres Brandenburger Tor in die unterirdischen Anlagen schaffen konnte, antwortet er erst nach einer Denkpause. „Es war eine echte Herausforderung für mich und das erste Mal, dass ich mich an ein größeres Objekt gewagt habe. Gelegenheit für verschiedene Experimente mit Molekularverdichtung und Schwerkraft.“ Kurzum, er musste das Objekt mit dem Schwerkraftmodulator scannen und während des Dopplervorgangs soweit verkleinern, dass er es problemlos in einem stabilen Rollkoffer und danach in seinem E-Boot zum Biberbau transportieren konnte. Das war vor einem halben Jahr. Inzwischen, sagt er, nach erfolgreicher Erprobung und mehrfachem Einsatz des Transporters hätte er den Transfer auch von einer x-beliebigen Zwischenstation erledigen können, z.B. seinem Berliner Hotelzimmer. Dabei hat er eines der überaus praktischen Gefährte genutzt, wie sie zum Gepäcktransport auf den internationalen Flughäfen herum stehen. Für unsere aktuelle Besichtigung würden die kleinen Elektroroller reichen. Ich wage eine Frage: „Was wäre passiert, wenn dein Schwerkraft Modulator im Hotel versagt hätte?“ „Dann wären wir mit dem Objekt, egal auf welche Maße verkleinert, durch alle Decken bis hinunter in den Keller gerauscht. Verstehst du jetzt, warum ich grundsätzlich ein Zimmer in Parterre bestelle?“ Verstehe ich.
„Und wenn der Molekularverdichter versagt? Ich meine, wenn er sowas wie eine Kettenreaktion in Gang setzt? Wenn er mit dem Verdichten nicht mehr aufhört, bis nichts mehr vom Brandenburger Tor zu sehen ist. Würde dann ein schwarzes Loch entstehen?“ Ein grusliger Gedanke. Schwarze Löcher sind gefräßig. Ziehen alle Materie mit ihrer Schwerkraft an sich und wachsen dabei. Schwarz sind sie, weil nicht einmal das Licht über den Ereignishorizont hinweg gelangt, und der wächst, breitet sich aus. Zuerst wird verschlungen, was sich in der Nähe des winzig kleinen schwarzen Lochs befindet, dort, wo einmal das Brandenburger Tor war: der Onkel, das Mobiliar, Wände, Decken und Fußboden, die umliegenden Zimmer und Stockwerke mit allem, was sich drinnen befindet, Menschen, Tiere, Pflanzen. Egal. Alles wird verschlungen, und das schwarze Loch wächst weiter. Es frisst die angrenzenden Straßen mitsamt den Autos, den Bäumen und Laternen am Straßenrand, den vollen Papierkörben auch, Herrchen mit Hund beim Gassi gehen, alle Passanten sowieso, schluckt die Häuser und Geschäfte, die Wohnungen mit allem, was drinnen ist, auch die Fernseher mit dem gefräßigen Krümelmonster aus der Sesamstraße, nimmt sich die nächsten Straßen und Häuser vor, erobert das Zentrum, wo es seinen Appetit mit Hochhäusern und dem Fernsehturm stillt. Habe ich eben „stillt“ gesagt? Oh nein! Das schwarze Loch ist unersättlich. Mit jedem Bissen, den es einverleibt, wird es größer und mächtiger. Das original große Brandenburger Tor ist längst in seinem Wanst verschwunden, das zentrale Bahnhofsgebäude, Gleisanlagen und Züge, all die nagelneuen ICEs: weg - und mit jeder Minute, jeder Sekunde nimmt das apokalyptische Geschehen an Macht und Schnelligkeit zu. Berlin weg, samt seiner Vororte, der Spreewald mit seinen unterirdischen Anlagen auch, dann Mecklenburg Vorpommern, dahinter die Ostsee, als wäre es ein Schluck Wasser: verdunstet. Im Süden Dresden, das Erzgebirge und dahinter Tschechien mit der goldenen Stadt Prag: weg. Dasselbe nach Westen und Osten. Fruchtbare Landstriche, belebte Städte: weg. Ich entferne mich im Geiste, beobachte das Drama von meiner sicheren Position im Weltraum, sehe Europa unter mir verschwinden.
Das schwarze Loch greift weiter aus, erfasst Russland bis zum Ural, die riesigen Landmassen von Sibirien, dann Asien, China und Indien mit ihren über Jahrtausende gewachsenen Kulturen. Sie waren einmal. Der fünfte Erdteil Australien mit Neuseeland, nur eine Randnotiz. Jetzt macht sich das schwarze Loch bereit zum Sprung über die Ozeane zu den beiden Amerikas. Ich sehe Wolkenkratzer zusammenfallen, Steppen und Wüsten sich auftürmen, sich ihm entgegen werfen. Vergeblich.
Anden und Rocky Mountains lösen sich auf, wie die Berliner Mauer in Onkel Baldurs erster großer Erfindung. Das war der Anfang. Jetzt klafft die Erdoberfläche an mehreren Stellen auf, speit glühende Lava aus der Tiefe wie aus einem Höllenschlund und bricht auseinander, bevor das schwarze Loch die Reste verschlingt. Den Mond verspeist es zum Nachtisch.
„Artur, was ist mit dir? Du bist ja ganz bleich.“ Der Onkel schüttelt mich. Er schaut ebenfalls bleich, so bleich, als hätte er gerade meine Gedanken gelesen und mit mir den Weltuntergang erlebt. Versehentlich ausgelöst in Berlin, nach zwei fatalen Probeläufen im letzten Jahrhundert:
Made in Germany.
„Onkel Baldur, was geschieht, wenn der Materieverdichter etwas auslöst, was wir nicht mehr steuern können? So wie die Techniker in Tschernobyl, als sie mit der Sicherheitsanlage experimentierten. Weißt du immer, was du tust?“
Er seufzt: „Du hast mir gerade einen Schrecken eingejagt. Glaub mir, Wissenschaftler wollen die Welt nicht zerstören, sondern verbessern. Ich gebe zu, manche gehen dabei Risiken ein, die sie selbst nicht überblicken können. Wie jene Wissenschaftler, als sie mit asiatischen Bienen auch einen tödlichen Parasiten, die Varoa-Milbe, nach Europa brachten und dabei fast die europäischen Bienenvölker ausgerottet hätten. Unsere heimischen Bienen überleben nur dank regelmäßiger Behandlung mit Ameisensäure, wobei jedesmal die junge Brut stirbt. Kollateralschaden wie Tschernobyl. Nur als Belastungstest geplant. Dann der größte annehmbare Unfall, kurz GAU genannt.“ Er dagegen berücksichtige bei seinen Planungen alle denkbaren Entwicklungen. Kein Platz für irrationale Ängste, die nur den Fortschritt hemmen würden. Bisher hätten sich alle Beschwörungen des Weltendes in Wohlgefallen aufgelöst.
Z.B. unlängst das Gerede vom schwarze Loch hervorgerufen durch den Teilchenbeschleuniger von CERN. Erst die Schweiz weg. Dann der ganze Rest, einschließlich Sonnensystem und Milchstraße. Baldur mit erhobener Stimme: „Und was passierte nach dem bang erwarteten, von allen Medien begleiteten Start?“ Künstliche Pause. „NICHTS. Alle Befürchtungen zurück verwiesen ins Reich der Mythen und Märchen. Abergläubische Kleingeister.“
Mit einem verächtlichen Naserümpfen schließt der Onkel seinen Vortrag. Think big! Onkel Baldurs bekannte Devise. Trotzdem gebe ich mich nicht zufrieden. „Was tust du, wenn eine undenkbare Entwicklung doch eintritt. Jaaa. Wenn wir in die Zukunft blicken könnten, oder wenigstens die Vergangenheit ändern, dann...“ sage ich und weiß nicht weiter.
„Wenn wir in die Zukunft blicken können und die Vergangenheit ändern, dann...“, sagt der Onkel und blickt vor sich hin. Nachdenklich. Ganz wie die Katze, vor deren Auge die neue, unerwartete Beute in einem Wandspalt verschwunden ist. Er grübelt, und ich fürchte, nach Katzenart wird er geduldig seiner Beute auflauern, was auch immer sie sein mag, bis die Zeit reif ist.
Was soll ich noch zu unserem Besuch im Spreewald sagen?
Alles hat geklappt, wie es besser nicht klappen konnte. Wir haben Nofretete zu ihrer Gefährtin gestellt, nach der Kurzbesichtigung alle Türen hinter uns geschlossen, die Energieversorgung auf Warten „standby“ programmiert und sind im Boot den gleichen Weg zurück gefahren. Diesmal auf ganzer Strecke mit elektrischer Unterstützung des Schiffsmotors. Die ganze Zeit hat der Onkel kein Wort gesagt, vor sich hin gebrütet, als verfolge er einen wichtigen Gedanken.
Das Boot am Anleger vertäuen, Auto aus der Garage fahren, ein kurzes Gespräch zwischen Baldur und seinem Freund. Oder bloß Vermieter? Ziel eingeben, den Autopiloten einschalten, und schon fahren wir Richtung Südsee. Erst während der letzten Kilometer wird er gesprächig. Motto: Kein Sterbenswörtchen an die anderen. Er blickt mir in die Augen. Streng. Wie ich gesehen hätte, stecke sein Ewigkeitsprojekt erst in den Anfängen. Nur ein Bruchteil wertvollster Gemälde in Originalkopie gerettet, das Brandenburger Tor ein erstes Baudenkmal in der beabsichtigten Reihe historischer und politischer Symbole. Zuviel für einen einzelnen Menschen. Er brauche einen zuverlässigen Helfer. Sein Blick wird schärfer, fordernd. Das kenne ich schon: Uncle Sam wants you, der Zylinder mit der US-flagge, fordernder Zeigefinger. The Army wants you.
Hilfe, ich bin Pazifist, würde jeden Wehrdienst verweigern, rühre keine Waffe an und tappe prompt in die Falle. Zu einem Friedensdienst will er mich verpflichten, mein unverzichtbarer Beitrag im Dienste des Weltkulturerbes. Ich soll mich erinnern, an die vielen unersetzlichen Kunstwerke seit den Tagen der Antike, der Koloss von Rhodos, die Bibliothek von Alexandria, der Leuchturm, usw. usw. durch Erdbeben, Überschwemmungen, Krieg und Terror zerstörte Schätze, Aleppo, Palmyra, Tempel und Kirchen. Natürlich, man kann zerstörte Städte wieder aufbauen, rekonstruieren, wenn das Geld und der Wille vorhanden sind. Aber es ist nicht mehr das Original, und ich wisse ja, wie wichtig das Original für ihn ist. Er vertrete den Gedanken, wer historische Bauwerke, gar ganze Städte zerstöre, zerstöre deren Seele. Zumindest einen Teil. Das überrascht mich bei meinem Onkel, der eben noch vom wissenschaftlichen Fortschritt geschwärmt hat. Was ist dann mit der Seele von hölzernen Tempeln Asiens, die alle 80 Jahre zerstört und wieder aufgebaut werden? Vielleicht ein anderes Verständnis von Seele oder was für uns wichtig ist.
Wo er mit seiner Argumentation letztlich landen wird, ahne ich und ducke mich innerlich vor dem erwarteten Schlag. Und da kommt er schon: Der auf mich gerichtete Zeigefinger von Uncle Sam, quatsch, Onkel Baldur und die fordernde Stimme. Die Welt braucht dich, Artur! Hilf mir, sie zu retten! Ich gebe mich geschlagen.
Was ihn darauf gebracht hat? Na, die Unvernunft, die Kriege und Zerstörungen der letzten Jahrzehnte. Nach dem Mauerfall habe auch er an neue, friedlichere Zeiten geglaubt. Welch ein Irrtum. Für eine bessere Welt gelte es zu handeln, und zwar jeder nach seinen Talenten; so stehe es schon in der Bibel. Da er unbestrittenermaßen über besondere Talente und Fähigkeiten verfüge, liege die Hauptlast auf seinen Schultern. Ich, als begabter verantwortungsvoller junger Mann, von dem er sehr viel halte, zudem sein Neffe, müsse ihm helfen, diese Last zu schultern. Kann man da nein sagen?
Konnte ich nicht.
*
Um 18:00 Uhr begrüßt uns die Restfamilie mit Hallo. Sie vergnügt sich seit Stunden im künstlichen Südseeparadies, plantscht in der Bali-Lagune, testet die abenteuerlichen Wasserrutschen, und scheint immer noch nicht genug davon zu haben. Auch Charly-Karlchen, obwohl er in der schmalen dunklen Röhre stecken blieb und tüchtig rudern musste, um wieder rauszukommen. Zu wenig Wasser unter seinem fetten Hintern. Schöner finde ich es abends, als es ruhiger wird und die meisten Besucher mit Tageskarte zum Bus müssen. Jenny: „Ohne das grüne Gemüse lässt es sich verdammt gut aushalten.“
Ach ja, Karlchens Vater ist noch dazu gekommen: Herr Haarig oder besser Gräulich, wie er bei uns inzwischen heißt. Morgen werden wir Vater und Sohn wohl den ganzen Tag ertragen müssen. Bekanntlich nennt man das Toleranz.
Um mich von beiden nicht weiter nerven zu lassen, schnappe ich Baldurs Aufnahmegerät und nehme alles Mögliche auf, auch den ganzen Schuppen von innen und außen. Mit Schuppen meine ich den Hangar, in dem der Cargolifter geparkt werden sollte und in dem sie jetzt die Südsee imitieren.
Leider steigt mir Gräulich-Haarig nach und interessiert sich für das Aufnahmegerät, schwadroniert drauflos, von wegen einem Fotocreativkreis, in dem er seit Jahren Mitglied ist, und bei meiner Kamera handle es sich wohl um das neueste digitale Modell. Zum Glück kommt Isa hinzu.
Bei ihr hat sich zu Shopp-o-mania und übertriebenem body-feeling eine erhöhte Öko-Empfindlichkeit gesellt Sie leidet mit allen Geschöpfen, denen es nicht hundertprozentig gut geht. Heute mit zwei bunten Papageien, die allein in der Voliere sitzen, auf einem kahlen Holzast ohne jedes Grün. Zehn Minuten lang hat sie die beiden beobachtet, ehe sie ihr Urteil fällte: nicht glücklich. Kein Grün, keine Gelegenheit zum Ausflug, nur die Temperatur dürfte passen. Von einer Angestellten weiß sie, dass die Papeis vor drei Monaten in einer Zoohandlung gekauft wurden. Bis auf die größere Voliere keine Verbesserung ihrer Situation. Ich wende ein, dass die beiden sich gut zu vertragen scheinen. Schnäbeln miteinander wie ein Liebespaar.
„Ach was, ihre Antwort, „sie versuchen sich nur zu trösten.“ Ich rate ihr, sich zu beschweren, in solchen Unternehmungen gibt es immer eine Meinungsplattform, wo sie die Kundenzufriedenheit erfragen. Motto: Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie ist begeistert.
„Na warte, die werden was von mir zu hören kriegen. Und über die neue Anlage beschwere ich mich auch. Wo bitte ist da Amazonien? Der Zugang gefliest wie daheim in unserem Badezimmer, Schwimmbecken wie in einem x-beliebigen Freibad mit Grünfläche, und der Gipfel, ein sogenannter Wildbach mit blauer Schwimmbadbemalung. Warum haben die sich nicht was ähnlich Tolles einfallen lassen wie in der Bali-Lagune? Wäre ich Besitzer von dem Laden, würde ich mir zuerst den Wildbach vornehmen, den blauen Beton durch echten Fels oder wenigstens gute Nachahmungen ersetzen, dahinter Bäume pflanzen, am besten Tannen, damit es auch im Winter wie ein Gebirgsbach mitten im Wald aussieht.“ Sie setzt ihre grimmigst entschlossene Miene auf. „Nur dann und wenn es den Tieren gut geht komme ich wieder. Warum können sie die beiden Papeis nicht mit einer langen Fußkette auf einen Ast setzen oder in einen größeren und schöneren Käfig und jeden Tag eine Stunde vor uns fliegen lassen, wie es die Falkner machen oder im L'Oro Park auf Teneriffa? Papageien sind mindestens so klug wie Habichte und Falken und langweilen sich, wenn man sie nicht beschäftigt. Dann hätten alle was davon: Die Papageien dürfen fliegen und das Publikum kriegt das echte Dchungelgefühl. Na, was sagst du dazu?“
„Superidee. Schreib es den Verantwortlichen und gib ihnen etwas Zeit. Je mehr sich beschweren, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Sonst bleibt Amazonien eine Mogelpackung. Schlag ihnen ein neues Motto vor. Reise um die Welt oder Vom Amazonas in die Kordilleren, wenn der Amazonas unbedingt dabei sein soll. Dann können sich die Landschaftsarchitekten austoben, und in ein paar Jahren haben wir deinen Wildbach im Bergwald, vielleicht sogar den Titicacasee und eine Kopie von Macchu Piccu obendrein.“
„Richtig! Gib ihnen die Arschkarte, lass einen Shitstorm los! Nur so verändern wir die Welt.“ Das kann nur das Schandmaul von Katastrophen - Jenny sein, die sich auf Shitstorms versteht. Unser Geschrei muss sie angelockt haben, und da steht sie neben Hans Gräulich, äh Haarig, der sich erstaunlich ruhig verhält. Vielleicht hat er keine Ahnung von Papageien und Landschaftsarchitektur, was bei ihm erstaunlich wäre. Nach seinen Reden kennt er sich nämlich überall aus und muss zu jedem und allem seinen Senf geben. Jenny schaut verwegen aus in ihrem knallbunten Strandkleid mit dem schwarzen Jaguar im Orchideenbeet. Ihr rotes Haar hat sie zu zwei Zöpfchen gebunden, was mich an Pippi Langstrumpf oder die rote Zora erinnert. Mit beiden hätte sie es als Kind locker aufgenommen. In einer Hand hält sie eine Riesenportion Eis mit allerhand Krimskrams obendrauf. Toppings. Sie spendiert jedem eine Portion in der Eisbar nebenan. „Ihnen auch“, sagt sie mit gönnerhaftem Seitenblick zu Hans Haarig.
Eine halbe Stunde später sind wir überzeugt: Am besten schmeckt Eis in den Tropen. Was einer wissenschaftlichen Feststellung gleich kommt.
*
Die Haarigs sind doch nicht über Nacht geblieben. Karlchen musste am nächsten Tag zur Schule, und beide versprachen hoch und heilig, uns bei nächster Gelegenheit zu besuchen. Benni freut sich darauf. Isa und ich finden, das war kein Versprechen. Es war eine Drohung.
Wie haben wir uns auf einen ganzen Tag ohne die beiden gefreut, „doch mit des Schicksals Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten, und das Unheil schreitet schnell“, zitiert Theo aus dem deutschen Balladenschatz (natürlich Schiller).
Das Schicksal überrascht uns in Form eines Anrufs, als wir gerade die zweite Portion Eis verdrücken. Theo hält mir das Smartphon ans Ohr, und ich merke sofort, Baldurs Stimme zittert, keine Spur von der üblichen Überlegenheit. Der große Zampano fast kleinlaut. Beunruhigendes ist passiert. Das Hotel entschuldigt sich für einen Fehler des Zimmermädchens, das irrtümlich einen Fremden in sein Zimmer gelassen habe, und Baldur möge kontrollieren, ob etwas fehlt. Der Zimmertresor sei nämlich offen gestanden. Die Nofretete, mein erster Gedanke. Gut dass wir sie in Sicherheit gebracht haben, mein zweiter. Mein dritter: Bei meinem Onkel gibt es immer Interessantes zu holen und: Dieser Haarig hat was damit zu tun. Warum sonst mussten die beiden so schnell abreisen? Sein Sohn, dieser fette Schleimer, arbeitet wahrscheinlich als Zuträger für seinen Alten. Schleicht sich ins Vertrauen des naiven Benni und berichtet das Erfahrene brühwarm weiter.
An ein erholsames Plantschen in der Südsee war jedenfalls nicht mehr zu denken. Wir packten unsere Siebensachen und waren zwei Stunden später im Hotel. Jenny fuhr wie der Teufel, während Theo und ich uns verstohlene Blicke zuwarfen. Ihren Fahrstil zu kritisieren haben wir uns nicht getraut, aber beide wohl das gleiche oder selbe gedacht: Wie entspannend ist es doch mit Onkel Baldurs Autopiloten, wenn man sich erst einmal dran gewöhnt hat.
„Sie sind nicht mehr da!“ Der Onkel sah ziemlich bleich um die Nase aus. Was oder wer war nicht mehr da?
Wir standen in seinem Hotelzimmer, auch Benni, den wir nach den jüngsten Ereignissen für einen Verräter in den eigenen Reihen halten müssen.
„Mein Mauerspecht. Der Prototyp einer Entwicklungsreihe,“ erklärte er. „In die falschen Hände gelangt, kann er großen Schaden anrichten. Und mein Beamer, ebenfalls ein Prototyp für alle späteren Transporter. Auch fort.“
Es half nichts, dass die Eltern ihn zu beruhigen versuchten und vorschlugen, das Zimmermädchen zu befragen. Wir würden ihr ein Foto von diesem Haarig vorlegen. Oder zwei. Natürlich habe ich sofort unter meinen Schnappschüssen gesucht. Fehlanzeige. Wer fotografiert schon jemand wie Hans Haarig? Die anderen wurden ungeduldig, und Isa meinte, bei Haarig könne es sich um einen Vampir handeln. Die seien nämlich auf Fotografien nicht abzubilden. Egal. Das Zimmermädchen blieb unauffindbar, eine Aushilfskraft, wie wir zu hören kriegten. Man habe leider noch keine Personalien aufgenommen. Für den Fall, dass etwas verschwunden sei, die Versicherung werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen. Sehr beruhigend. Der Onkel hat nur in komischer Verzweiflung den Kopf geschüttelt: Da kann keine Versicherung helfen.“ Jenny: „Wenn ihr mich fragt, das stinkt zum Himmel.“
Außerdem mussten die Erwachsenen sich eingestehen: Keiner hatte Hans Haarig nach seiner Anschrift oder Telefonverbindung gefragt, wohl, weil Theo sich seine Visitenkarte abschwatzen ließ und keiner scharf darauf war, die Bekanntschaft von sich aus zu erneuern. Ohne Benni wären wir aufgeschmissen gewesen. Mein Bruder hatte die ganze Zeit mit schief gelegtem Kopf zugehört, unsere ratlosen Gesichter beobachtet, während sich auf seinem Gesicht ein immer deutlicheres Überlegenheitsgefühl abzeichnete – bis er es nicht mehr aushielt, „ich habe die Adresse“ rief, einen zerknüllten Zettel aus der Hosentasche zog und ihn triumphierend schwenkte: „Hier! Die Zeppelinstraße in Potsdam. Er weist auf die Nummer. „1. Stock. Hat mir Karli gegeben.“
*
Keine zwei Stunden später standen wir vor der richtigen Hausnummer, Baldur, Theo und ich. Benni auch, da von ihm der entscheidende Tipp stammte. Ein mehrstöckiges Mietshaus, Ende 19. Jhdt. gebaut, schätze ich. Gründerzeit. Hat sicher mal bessere Zeiten gesehen; an einer Durchgangsstraße mit Tramverbindung. Wir studierten die Namensleiste mit den Klingelschildern. „Dein Karlchen hat dir einen Bären aufgebunden, von wegen Haarig. Im 1. Stock wohnt nur ein Peter Pelzig. „Und wenn er seinen richtigen Namen nicht genannt hat?“ Der Onkel hat nochmals die Namensliste studiert: „Özdemir, Schmidt, Schuster, Lewandowski, Pelzig“ und gegrübelt. „Fällt euch was auf?“ Ich wusste nicht was er meinte, Aber Benni schaute plötzlich, wie Kater Onyx vor einer Maus, schnippste aufgeregt mit den Fingern.
„Ich weiß es, ich weiß es! Peter Pelzig ist Hans Haarig. Derselbe.“ Zu Baldur: „Onkel Baldur, erinnerst du dich vielleicht an einen Peter Pelzig?“ Onkel Baldur antwortete nicht. Wir merkten, er kramte ernsthaft in seinen Erinnerungen.
„Es ist möglich, tatsächlich am Anfang meiner Zeit bei der Volksarmee. Ich weigerte mich zu schießen und wurde Bausoldat. Nur kurze Zeit, weil sie mich in der Forschung brauchten. Vorher haben sie jemand auf mich angesetzt, um mich auszuhorchen. Ich meine, er nannte sich Pelzig, Hans-Peter Pelzig.“
Nun überstürzen sich die Ereignisse: Zuerst Peter Pelzigs Stimme aus dem Wohnungslautsprecher.
„Wie lange wollt ihr auf der Straße stehen und diskutieren? Kommt rauf!“ Der Summer ertönt, und knackend öffnet sich das Türschloss. Peter Pelzig ist Baldurs nervige Bekanntschaft aus alten DDR-Tagen. Die Tür zur Wohnung im 1. Stock steht weit offen, und im Türrahmen empfängt er uns mit ausgebreiteten Armen Hans Haarig, alias Peter Pelzig.
„Du Schuft! Was hast du mit den Geräten aus meinem Tresor gemacht. Gib sie heraus!“ Der Onkel hat den alias-Schuft als erster erreicht und fasst ihn am Kragen. Jetzt ist es an der Reihe von Peter Pelzig - so müssen wir ihn wohl von jetzt an nennen – verdutzt zu schauen. Er windet sich in Baldurs Griff und ächzt: „Das muss ein Versehen sein.“ Er wolle alles erklären. Er bittet uns durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer, stellt Wasser und einige Gläser vor uns hin, nachdem wir uns gesetzt haben. Doch statt mit seiner Erklärung zu beginnen stellt er Fragen, hakt immer wieder nach, schüttelt den Kopf. Der Hoteldiebstahl beunruhigt ihn sichtlich, auch die Geschichte mit dem untergetauchten Zimmermädchen. „Sie müssen dir seit Längerem auf der Spur sein. Das macht mir Sorgen“, murmelt er, und in unsere erstaunten Gesichter: „Glaubt ihr wirklich, dass ein so talentierter Mensch, mit dem nicht nur die Wissenschaft der DDR größte Erwartungen verknüpfte, einfach mir nix dir nix in der Anonymität verschwinden kann? An Baldur gewandt: „Seit der Wende versuchen mehrere Organisationen deine Spur aufzunehmen, und wie es aussieht, sind sie zur gleichen Zeit fündig geworden.“ Eine Organisation habe den Hoteldieb geschickt, die andere ihn, Peter Pelzig mit dem Auftrag, sich an Baldur und seine Familie heranzumachen. Bei Pelzig klang das natürlich harmloser, nämlich dass er sich um uns kümmern solle. Wie fürsorglich! Dass Baldur den Fall der Berliner Mauer zu verantworten hat, ist diesen Organisationen bekannt. Sie wollen den Stand von Onkel Baldurs Erfindungen erfahren und beide haben ihren Ursprung im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Ich hörte Stichworte wie Rote-Armee-Fraktion, das war eine Gruppe von westdeutschen Terroristen aus dem Studentenmilieu, von denen sich einige nach einer misslungenen Flugzeugentführung umbrachten und andere in der DDR und im Nahen Osten untertauchten. Sie sprachen von der Organisation horch und guck, damit war die ostdeutsche Staatssicherheit gemeint. Von der NSU. Von arabischen Ausbildungslagern für Terroranschläge, von der Russenmafia. Sie befürchteten, auch die traditionsreiche neapolitanische Comorra habe Wind bekommen, und die sizilianische dazu. Trittbrettfahrer wie immer, wenn es das große Geld zu holen gilt. Über Kriege und andere Aktionen, die viel Geld kosten, über neue Attentatspläne und neue Wege der Geldbeschaffung redeten sie über eine Stunde. Ach ja, Benni war nicht dabei. Sein Vater hat ihn gleich am Anfang zu Karlchen aufs Zimmer geschickt. Mich haben sie zu Stillschweigen verpflichtet, was ich aufrichtig versprach. Es ist mir eine Ehre, dass ich von nun an zu den Eingeweihten und Geheimnisträgern gehöre. Deshalb konnte ich mir zum Abschied eine Bemerkung nicht verkneifen: „Herr Pelzig, Sie sind heute so ganz anders, so ernsthaft und überlegen. Überhaupt nicht so nervig wie in den letzten Tagen.“ Er hat freundlich gelächelt und erklärt, dass Verstellung zum Rüstzeug eines jeden Geheimagenten gehört. Seine erste Lektion damals beim Staatssicherheitsdienst der DDR. Eigentlich liege ihm das preußisch Korrekte, Zurückhaltende mehr, als das Gewäsch, mit dem er uns in den letzten Tagen genervt hatte. Es sei Teil seiner Verwirrungstaktik gewesen. „Nichts ist so wie es scheint. Merk dir das fürs Leben!“, seine Worte, als er mir zum Abschied die Hand reicht.
Seit zwei Tagen sind wir aus Berlin zurück. Nach all den Hiobsmeldungen hat es uns nicht länger dort gehalten. Wir können es immer noch nicht fassen, wie unser Abenteuerspiel um Baldurs Erfindungen mit einem Mal unheimliche Fahrt aufgenommen und uns in einen Strudel seltsamster Vorkommnisse gerissen hat. Dabei ahnen nur der Onkel und ich die Tragweite der Ereignisse, in die wir unversehens gerissen wurden. Den Reichstag heben wir uns für den nächsten Berlin-Besuch auf.
Wenn er dann noch steht.