VIII. Sprache
VIII. 1 Sprache und Leitkultur. 04.06.20
Was haben beide miteinander zu schaffen? Wie stehen sie zur Identität? Ausnahmsweise hilft mir ein bekannter Lehrsatz aus der Mathematik: Wenn zwei Dinge einem Dritten gleichen, dann sind sie auch einander gleich. In unserem Fall zumindest ähnlich.
Unsere Leitkultur definiert sich zweifellos aus der Sprache. Das meint sogar jene deutsch türkische Politikerin, die Herr Gauland unfreundlicherweise nach Anatolien entsorgen möchte. Wenn wir von Sprache reden, bitte die Dialekte nicht vergessen! Wo sonst ist die Eigenart einer Region stärker ausgeprägt? Wo sonst stärker mit einer Person verbunden? Zum Bild meiner Großeltern mütterlicherseits gehört ihr lippisches Platt mit den eleganten Diphtongen, zu den Eltern meines Vaters das Niederschlesische. Unverwechselbar. Wie gerne würde ich Platt snaken - habe ich doch meine ersten Lebensjahre im Haus der Großeltern zugebracht, die untereinander, mit den Nachbarn und Dorfbewohnern Platt snakten. Mit uns Kindern sprachen sie nur hochdeutsch (dat lui schal wat rechtes lern). Schade. Der eigene Dialekt schien nicht mehr zeitgemäß, höchstens familientauglich. Warum sonst verrichtete mein blinder Großvater sein tägliches Morgengebet nur auf hochdeutsch? Aus dem angrenzenden Schlafzimmer hörte ich es gleichermaßen erstaunt wie beklommen. Verstand Gott nur hochdeutsch?
Deutsche Sprachlandschaften sind untrennbar verbunden mit Leitkultur und Identität.
Bei dem Wort Leitkultur gehört es seit einiger Zeit zum guten Ton, kritisch die Nase zu rümpfen. Seine Anhänger in der Wolle hoffnungslos reaktionär, wenn nicht braun gefärbt. Was würde Ulla Hahn dazu sagen? Das köllsche Platt ihrer autobiographischen Romane ist Teil der rheinischen Leitkultur, wahrhaftige Sprache des Herzens und für mich eine beglückende Leseerfahrung. Da passt das Wort 'authentisch' - wie übrigens auch beim Berlinischen des Hans Fallada. Gleichfalls authentisch ist bei Ulla Hahn das Katholische, und wollte ich in allen drei Bänden nachzählen, ich käme bestimmt auf einige hundert Nennungen des Begriffs: zur Identität dieses deutschen Landstriches gehörend. Die Ich-Erzählerin Hilla Palm und damit die Autorin selbst ist katholisch sozialisiert "bis in die Knochen". Wie mag sie den Wechsel ins protestantische Hamburg verkraftet haben? Zu allem Überfluss protestantisch verheiratet?
Als norddeutsche Protestantin mit einigen Schuljahren im erzkatholischen Paderborner Land - schwärzeste Diaspora für Lutheraner und Reformierte, später Studentin im lebensfrohen Köln noch später in Bayern habe ich einen geschärften Blick entwickelt für die verschiedenen Erscheinungsformen katholischer Leitkultur. Die Gottesdienste, z.B. am Gründonnerstag mit Weihrauch und Fußwaschung im Schein der Kerzen: für mich große Oper. Oder Fronleichnam, das frühlingsfrohe Fest um den Leib des Herrn, die Monstranz vom Priester zu kniefälliger Verehrung getragen bis vor das Dorf, wo er nach altem, wahrscheinlich heidnischen Brauch den Ackersegen erteilte. Über liebevoll gelegte Blumenteppiche der christlichen Symbole schreitet die Prozession, vorbei an festlich geschmückten Hausaltären, im Zentrum des Hausaltars stets ein Bild des letzten Abendmahls oder der heiligen Familie. Zufall, dass ich unwillkürlich an indische Bräuche der Götterverehrung denke? Wo zu hohen Feiertagen - manchmal auch täglich - die Hindugottheiten hinaus aus dem Tempelinneren steigen, getragen werden hin zum gläubigen Volk, um in feierlicher Prozession den heiligen Bezirk zu umschreiten. Zwei eindrucksvolle, zu Herzen gehende Vorstellungen. Nach der Prozession werden die vielarmigen Gottheiten zurück kehren ins dunkle Tempelinnere und die Heilige Familie wird wieder ihren Platz über dem Ehebett einnehmen, wie auch die Tafel mit dem gebieterischen Schriftzug Jesus siegt!
Anmerkung eines Freundes: "Als Ehemann würde ich unter diesem Konkurrenzdruck jämmerlich versagen."
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