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lob der kleinschreibung und start meines neuen romans: "alles gelogen" (1)

warum kleinschreibung? eine ruptur der rotatorenmanschette (klingt schöner als es ist), wochenlang nicht erkannt und falsch behandelt, nach mrt am 17.august im münchner schulterzentrum operiert (empfehlung: fühlte mich wie im kurlaub) - kann und darf den rechten arm für mehrere monate garnicht bzw. nur eingeschränkt gebrauchen - zum glück keine exotische krankheit, vor der die meisten ärzte kapitulieren, sondern ganz normale folge von überlastung, sturz, alter - bei mir wohl eine kombination von allen dreien...

weil schreiben/ tippen mit links zwar gut fürs hirn sein soll, aber wenig spaß macht und meine leser sicher nervt, schalte ich jetzt das 1. Kapitel meines neuen Romans und nenne ihn

Alles gelogen

Die Wahrheit nachbilden mag gut sein, aber die Wahrheit erfinden ist besser, viel besser

(Franz Werfel 1924)

I. Von Stein und Eisen

1. Kapitel

Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!

Tue das Große da, wo es noch klein ist!

Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.

Alles Große auf Erden beginnt stets als Kleines.

Laotse

oder

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.

Volksmund

Sand. Ein Sandkorn wiegt nicht viel, fast nichts. Zwei, drei, fünf Sandkörner wiegen das Zwei-, Drei-, Fünffache, also wenig mehr als nichts. Das ist Sand: fast nichts. Aber hier: Sand, wohin das Auge reicht. Überall Sand. Nicht vom Nordseestrand, nicht von den friesischen Inseln, von Sylt, Amrum oder Norderney und wie all diese Sandhaufen im Meer heißen mögen. Der Sand der Nordseeinseln ist mehr oder weniger grobkörnig, durchmischt mit Kieseln und zerriebenen Muschelschalen, von Nordseewasser getränkt, das heißt in 8 von 12 Monaten im Jahr zu kalt für Barfüßler, ausgenommen solchen, denen auch vor zugefrorenen Seen nicht graut. Also nichts für mich. Vor mir, das ist auch kein Sand vom Ostseestrand, von der Kieler Förde über Mecklenburg Vorpommern, weiter die polnische Küste entlang bis hinauf ins Baltikum. Obwohl der Sand dort feiner ist als an der Nordsee – Ich weiß Bescheid:

Der Sand, den ich vor Augen habe, ist es nicht. Unwillkürlich schließe ich die Augen und sehe wieder Sand. Feiner Sand an den Ufern der Seine in Paris, wo wir uns im letzten Sommer wie in Saint Tropez fühlen durften. Jedenfalls mit geschlossenen Augen, verstopften Ohren und einem Lavendelsträußchen vor der Nase. Gut gemeint von der Pariser Stadtverwaltung, die ihn seit einigen Jahren dahin schafft, und ich stelle mir vor, im nächsten oder übernächsten Sommer bedecken sie den Platz unter dem Eiffelturm ebenfalls mit dicken Schichten Sand, natürlich mit echten Palmen bepflanzt. Tropen in Paris, das wär' doch was? Vielleicht sogar Konkurrenz zur Tropeninsel bei Berlin, wo sie mit Urwaldbäumen, Wasser und natürlich mit Sand, viel Sand künstliche Tropen geschaffen haben: alles in einem riesigen Hangar für Cargolifter, also für Lastenzeppeline, untergebracht. So groß, dass sogar der Eiffelturm rein passen würde. Interessant. Das Projekt Cargolifter ging bald pleite, aber bekanntlich steckt in jedem Ende ein neuer Anfang. Es braucht nur ein wenig Phantasie. Find' ich tröstlich, und Phantasie habe ich genug. Manchmal zu viel, wie Jenny und Theo meinen. Ausgerechnet die beiden. Lasst sie reden, ich denke mir meinen Teil. Denken ist nämlich meine Spezialität, das habe ich von Theos Bruder, und wo der hindenkt, da wächst kein Gras mehr. Sagen alle, die ihn kennen. Hochachtung oder Ahnungslosigkeit? Wenn die wüssten...

Ach ja, der Sand. Dieser feine, unfassbar feine, helle Sand. An keinem europäischen Strand zu finden, nicht in Kalifornien, Australien oder Neuseeland, auch nicht in Asien, nicht auf Ko Samui oder auf Bali, wo ich bereits mit Jenny und Theo war. Nein, so feiner Sand findet sich nur an einem Ort am Rande der Sahara, genauer in den Sanddünen von Douz. Daher komme ich gerade. Stell dir vor, lieber Leser, auch du, liebe Leserin, stell dir vor: vor dir der feine Sand, soweit das Auge reicht, die Füße sinken ein, wenn du eine Düne erklimmst, und hinter den letzten Palmen geht die Sonne blutrot unter. Wo Douz liegt? Na, im Süden Tunesiens und da bin ich, genauer, da war ich bis vor zwei Tagen. Dieser feine Sand. Ich öffne die Augen: Überall Sand. Leider nicht in den Dünen bei Douz. Eine fingerdicke Schicht liegt auf meinem Schreibtisch, auf meinem Schreibtischsessel, auf beiden Regalen, auf den Büchern, schwimmt im Glas Wasser, das ich mir gerade eingeschenkt habe, liegt auf der Fensterbank, auf Blättern und Blüten der Orchidee; Sand rieselt zwischen die Tasten meines Tablets, er bedeckt den tunesischen Webteppich so dicht, dass ich die rostroten Muster nur erahne; Sand umhüllt meinen Rucksack. Was das bedeutet?

Es hat geklappt. Nach Wochen der Vorbereitung hat es geklappt. Die Generalprobe über 1000km, genauer 1.834km, so groß ist nämlich die Entfernung zwischen Douz und meiner Stadt. Der Onkel wird begeistert sein. Oder doch nicht? Irgend etwas ist schief gegangen mit dem feinen afrikanischen Sand. Statt den Rucksack am Boden zu füllen, bedeckt er alle Flächen und Winkel meines Zimmers, und statt einem triumphierenden Hurrah bricht nur ein entsetztes „Neiiiin" aus meiner Kehle. Und nochmal „Neiiiinnn"

„Warum in drei Teufels Namen schreist ...

Ja, biiist du denn des Wahnsinns fette Beute?“

Jenny steht in der Tür, die Augen weit aufgerissen.

„Entschuldigung, aber du hättest wenigstens klopfen können.

Ich mach grad Ordnung.“

„Ordnung? Das nennst du Ordnung? Die halbe Wüste Sahara in dein Zimmer zu bringen? Warum hab' ich Idiotin euer Gepäck nicht vor der Abreise kontrolliert? Überhaupt, wie bist du damit durch die Kontrollen gelangt?“ Sie schaut sich um, beide Hände in die Hüften gestemmt.

„Soviel Sand in Deinem Gepäck - da stimmt doch was nicht. He, was ist das? Hast du das nicht schon in Tunesien mit dir rum geschleppt?“

Mist! Warum habe ich nicht hinter mir abgeschlossen? Oder wenigstens den Apparat an einen unauffälligen Platz gelegt. Da liegt er nun: unübersehbar auf dem Schreibtisch. Makellos. Kein Sand auf der Oberfläche, kein Staubkörnchen - und tief schwarz, als berge er den Zugang zu einem schwarzen Loch, oder zum Gegenteil davon, und ganz falsch ist das wahrhaftig nicht.

Sie schnappt sich den Apparat, beäugt ihn zuerst interessiert, dann misstrauisch.

„Ist das dein neuer Fotoapparat? Der von Onkel Baldur? Sprich Artur! Gesteh! Was habt ihr beiden wieder ausgeheckt?“

„Wie sollte ich, wo wir grad aus Tunesien zurück sind. Bitte, Jenny, komm in einer Stunde wieder und – klopf an! Ich verspreche, bis dahin aufzuräumen.“

„Janina, bitte! Wenn schon nicht Mutter. In einer Stunde sagst du? Das glaube wer will, oder bist du Harry Potter?“ Sie schaut zweifelnd auf die Bescherung: „In zwei Stunden!“, schüttelt im Hinausgehen den Kopf, “warum bin ich ich nicht ins Kloster gegangen oder gleich ins Wasser?“

Dass sie immer so übertreiben muss! Das ist Calamity Jane oder Katastrophen - Jenny, wie sie von allen genannt wird. Ach ja, und unsere Mutter. Wir, das heißt meine Geschwister Isa und Benjamin und natürlich Theo, unser Vater, nennen sie auch so, aber nur, wenn sie nicht zuhört, also hinter ihrem Rücken, meistens zum Spaß. Nicht dass wir uns für sie schämen, selbst wenn sie verrückte Dinge tut, oder gottserbärmlich flucht. Meistens sind wir stolz auf sie.

Das mit den Katastrophen hat natürlich seinen Grund und mit ihrem Beruf zu tun. Nach ihrer Ausbildung zur Agraringenieurin und einem ersten Einsatz für den DED hat Jenny, wie sie sagt „Blut gerochen und ein Studium für Internationales Resourcement Management angehängt, um bei bei Greenpeace kriminelle Walfänger zu stoppen oder dem WWF gegen Wilderer von Tigern, Elefanten und Nashörnern zu helfen, vielleicht die Berggorillas im Virunga Nationalpark schützen. Das wollen natürlich die meisten, und ich schätze, wenn man sie ließe, kämen auf jeden Gorilla zehn Beschützer und zehntausend zahlende Förderer. Geht schließlich um viel Geld.

War also nichts. Gelandet ist sie dann bei der internationalen Katastrophenhilfe, zuständig für Erdbeben, Überschwemmung, Vulkanausbruch, Kriegsfolgen und Dürre, also allen Arten von Unglück, die vorwiegend Länder der dritten Welt heimsuchen. Wenn Calamity-Jane gebraucht wird, und das kann von einem Tag zum anderen geschehen, müssen wir unsere Spaghetti selber kochen. Schlimm? Ich finde nicht. Vor allem, weil Theo, also unser Vater, prima Spaghetti kochen kann, besser als die meisten au pairs und Haushaltshilfen, denen wir bis vor kurzem ausgeliefert waren. Geht nicht anders, wenn die eigene Mutter ein geruhsames Leben verabscheut, getreu dem Pfadfinderschwur allzeit bereit, und uns ständig aufscheucht, wenn wir es uns auf der faulen Haut bequem machen wollen. Ihr zweiter Grundsatz: Geht nicht gibt’s nicht. Der dritte: Kampf dem inneren Schweinehund und der vierte: Es muss kein 5-Sternehotel sein.

Wenn die Lage wieder unter Kontrolle ist, dürfen wir ihr manchmal nachreisen und wohnen zum Teil bei einheimischen Familien. Ihr gefällt das. Uns meistens auch. Wahrscheinlich spielen da zwei Jahrzehnte Erfahrung mit Rucksackreisen und Abenteuercampen rein, was sie uns ständig schmackhaft machen will: Weißt du noch, wie schön die Bahnfahrt von Chiuhuwawa nach Los Mochis war? Der baranco del cobre? Südindien auf dem Hausboot? Neuseeland mit Kiwi experience oder das verrückte Hostel in Chenai? Weiß ich alles. Aber sie hat offenbar vergessen, dass ich in Mexico Fieber hatte, Isa und ich in Südindien Durchfall und dass uns in Mexico unsere Reisepapiere und 'ne Menge Geld gestohlen wurden. Kinder wollen manchmal nur ihre Ruhe haben, aber was sollen sie machen bei so umtriebigen Eltern? Beispiel die U-Bahn zum Flughafen von Mexiko City: Kaum waren wir unten, fing es oben zu regnen an, und du glaubst es nicht, nach 30 Sekunden waren unten die Bahnsteige brechend voll, keine Chance, unser Gepäck zu schützen. Theos Tasche mit dem Messer aufgeschlitzt - und futsch waren unsere Kinderpässe und Theos Dollarreserve für den Rückflug. Sein Pass natürlich auch. Traumatisierung drohte, wenn nicht Lebensgefahr, das Geld und alle Medikamente futsch, die deutsche Botschaft am Wochenende geschlossen. Wie wir trotzdem in den Flieger gelassen wurden, das war schon eine dramatische Meisterleistung von Jenny. Sie kann sehr charmant sein oder eisig arrogant, aber auch donnern und toben, wenn ihr jemand dumm kommt. Ganz wie die Situation es erfordert. Nach weniger als einer halben Stunde gaben sie nach, und wir kriegten unseren Flieger in der berühmten letzten Minute, nachdem beim check-in schnell klar wurde, dass alles besser war, als uns den Rückflug zu verweigern. Sie versteht sich auf dramatische Auftritte. Sicher half uns auch, das Jenny geistesgegenwärtig jemand vom U-Bahnpersonal buchstäblich am Kragen geschnappt hatte und nicht losließ, bis der beim check-in die Geschichte bestätigte. Wir kriegten den Flieger rechtzeitig, stürzten unterwegs nicht ab und landeten sicher in München. Insgesamt Glück gehabt, zumindest bis zur Einreise nach Bayern. Da ging das Theater nämlich weiter. Der erste Beamte: Stirnrunzeln, strenger Blick: „Jo, wer san mer denn? Koa Papiere und aus Mexiko? Da könnt' jo jeda kumma.“ Theos Bart, sein schulterlanges Haar, die Löcher in meinen Jeans (hochmodisch, aber was weiß schon ein Uniformträger von persönlicher Mode?). Dazu eine schnoddrige Bemerkung von Isa von wegen Molotow cocktail im Rucksack: ALLES HÖCHST VERDÄCHTIG. Ich weiß, wovon ich rede. In der Nachbarschaft wohnt ein Heavy Metaller mit seiner Familie, alle stinknormal bis auf die lange Mähne. Die gehört zu jedem ordentlichen Heavy-Metall-Konzert, und jeder, ich sage, jeder sollte das wissen. Natürlich außer Grenzkontrolleuren und Zoll; denn vor und nach jeder Auslandsreise wird der Arme gefilzt bis auf die Unterwäsche. Wer weiß, wohin sie ihm auf der Suche nach Drogen noch langen. Dabei ist er sowas von sauber; typisch braver Kleinbürger. Jennys Kommentar: Ein Schaf im Wolfspelz. Was lernen wir daraus? Man muss bei uns den Schein wahren; das wissen vor allem die Wölfe im Schafspelz.

Bei unserer Einreise nach Bayern halfen uns auch Jennys Überredungskünste im schönsten Bayrisch nicht, obwohl sie perfekt Dialekte imitieren kann. Wir saßen für eine Stunde fest, mussten sämtliche Gepäckstücke filzen lassen und zu jedem exotischen Mitbringsel Erklärungen abgeben, bevor sie uns glaubten. Zum Glück hat Isa den Zusatz : „Ärsche“ für sich, also so leise gesprochen, dass er nur mich und keine sensiblen Beamtenohren erreichte. Ich rate euch, macht sowas nicht bei Amtspersonen, summt lieber "die Gedanken sind frei", aber nicht zu laut.

Ich hab mal im Internet nachgeschaut, was Beleidigungen so kosten. Nur ein paar Beispiele: 150 Euro für die herausgestreckte Zunge. Nur Einstein darf das. 300 Euro für 'dumme Kuh' oder 'leck mich am Arsch'. Dann wird es richtig teuer: 'bei dir piept's wohl' oder den Vogel zeigen kostet 750 Euro, der Wegelagerer 450 , 'verfluchtes Wegelagerergesindel' gleich das Doppelte und mit 1500 € ist man für den Raubritter dabei. Find ich zu streng, schließlich ist ein Ritter eine Art Edelmann. Im Dialekt wird’s erst richtig kompliziert. Mir hat mal jemand gesagt, 'Doa leckst mi am Oarsch' kann in Bayern als Zeichen von Verblüffung bis höchster Hochachtung gelten. Ob 'du Hirsch' nun eine Beleidigung ist hängt davon ab, ob hochdeutsch oder bayrisch gemeint. Und 'Bulle'? Kommt auf das Umfeld an. Ein zu kurz geratener Polizist könnte sich bei der Bezeichnung ja geschmeichelt fühlen. Oder?

Bei Autoritäten wie Verkehrspolizisten, türkischen Präsidenten und so gelten allgemein erhöhte Sätze. Also vor Inbetriebnahme des Mundwerks das Gehirn einschalten und nicht vergessen: Die Gedanken sind frei. Aber nicht zu laut singen, sonst gibt es irgendwann eine Strafe wegen der dahinter vermuteten beleidigenden Absicht...

Das Tollste: Nach einem halben Jahr erhielten wir die gestohlenen Pässe über die deutsche Botschaft zurück. Irgendwo gefunden. Der Dieb hatte wohl keine Verwendung dafür. Inzwischen stehe ich wieder auf exotische Reisen, vor allem mit der Bahn und möchte, bevor ich sterbe alle berühmten Eisenbahnlinien abgefahren haben. Von wegen: Es gibt viel zu tun, verschieben wir's auf morgen... Wir verreisen lieber heute als morgen, und Benni hat bereits seinen Berufswunsch geäußert: Pilot. Wahrscheinlich wurden wir von unseren Eltern erfolgreich konditioniert. Das liegt natürlich auch an den Berufen unserer Eltern. Vater ist Archäologe. Hat Jenny bei irgendeiner Ausgrabung in Mexico kennengelernt, als sie ihm neugierig zuschaute, während er behutsam mit dem typischen Archäologenwerkzeug, dem feinen Marderpinsel hantierte. Sie erzählt immer wieder, wie sie schweigend 15 Minuten ihre Ungeduld bezähmte, während er ebenso schweigend ein Artefakt von Erde befreite. „Mit einer Geduld und Sorgfalt, die ich nie aufgebracht hätte. Da wusste ich. Das ist der richtige Mann für mich.“ Bis heute geht es mit den beiden gut, und wir drei Kinder sind der beste Beweis. Je mehr Jenny die Geduld verliert, ausrastet oder das, was man schöpferisches Chaos nennt, produziert, desto ruhiger wirkt Theo. Und so, wie er sie dann anschaut, leicht schräg von der Seite, mit so einem besonderen Ausdruck, wie soll ich es beschreiben? Genauso liebevoll betrachtet er manche seiner Fundstücke, während der Pinsel Erde und Sand entfernt, die Spuren der Zeit bloßlegt. Und dann sagt er zu Jenny, die uns gerade alle nervt. „Du bist und bleibst mein liebstes Fundstück“. Wetten, dass sie ihm darauf jedes Mal um den Hals fällt. Weil ich am ruhigsten, und wie Theo meint, am vernünftigsten bin, durfte ich ihm öfter bei den Ausgrabungen helfen. Aber sein wir ehrlich. Es ist nicht immer so spannend oder gar sensationell wie die Ausgrabungen im ägyptischen Tal der Könige. Originalton Theo: Nicht Bagger und Spaten, Lupe und feiner Echthaarpinsel sind die wichtigsten Werkzeuge des Archäologen. Auf zwei Monate Ausgrabung in der Türkei folgen zwei Jahre Untersuchen, Bestimmen, Katalogisieren daheim oder im Institut. Jenny: „Ätzend“. Und ich? „Statt auszugraben möchte ich lieber darüber schreiben. Noch lieber über Jennys Katastropheneinsätze. Vielleicht als Journalist oder als Schrifsteller.“ Darauf immer wieder die gleiche Reaktion.

„Hört, hört! Artur plant ein zweites Götter Gräber und Gelehrte.“ „Sieht sich bereits als Schöpfer des Jahrhundertromans, auf den wir alle gewartet haben.“ „Du bist und bleibst unser Dichter und Träumer.“ So reden die andern.

Sie verstehen mich nicht.

Der Sand. Warum liegt er gleichmäßig im Zimmer verteilt und nicht in meinem Rucksack, wie mit dem Onkel geplant? Was habe ich falsch gemacht? Ich gehe nochmal die einzelnen Schritte von gestern morgen durch. Die Sanddüne bei Douz: einen Plastikbecher mit Sand füllen, das Gewicht mit Hilfe des Rezeptors bestimmen, die gewünschte Faktorzahl eingeben, das Empfangsgerät auf die Düne richten.

Das Produkt muss später in meinen Rucksack passen. Ich drücke auf den Auslöser, sehe den Sandwirbel, eine Art umgekehrter Strudel, der sich auf den Rezeptor zu bewegt, meine, für den Bruchteil einer Sekunde das volle Gewicht von einigen Kilo Sand zu spüren (natürlich Einbildung), dann nichts mehr. Der Wandler hat zuverlässig gearbeitet, wie vom Onkel mehrfach erprobt, und der Sand liegt sicher in einer Raumfalte im mehrdimensionalen Raum. Sagt der Onkel. 1834 km zwischen Douz und meinem Rucksack hier in Deutschland spielen für den mehrdimensionalen Raum keine Rolle. Sagt er auch. Und wenn ich Rezeptor und Wandler verbinde, justiere, sodann den Auslöser drücke, wird der Sand am gewünschten Ort materialisieren. Soweit hat es geklappt. Oder fast. Materialisiert ist der Sand, nur leider nicht in meinem Rucksack wie geplant. Es muss an der Einstellung liegen. Jetzt kann nur noch Onkel Baldur helfen. Und er hilft mir. Wenn wir miteinander telefonieren, dann über Skype, vielmehr eine verbesserte Version von Skype: der Ton hinkt nicht mehr hinterher. Arbeit weniger Minuten wie der Onkel sagt. Es ist gut, einen Erfinder in der Familie zu haben, und was für einen. Er hat offenbar mit meinem Anruf gerechnet. Denn zwischen Anruf und Bild vergehen nur wenige Sekunden. Ich sehe ihn vor seinem 3 D-Drucker stehen, ebenfalls eine seiner persönlichen Weiterentwicklungen. Der Drucker arbeitet. Daneben einige Fertigteile, die mich an den Apparat erinnern, mit dem ich unter Umgehung des Zolls Sand aus Tunesien transportiert habe. Er sieht das Sandmeer in meinem Zimmer und grinst. „Was predige ich dir seit Jahren? Sorgfalt ist die Mutter der Porzellankiste. Vor Knopfdruck Gehirn einschalten!“ Sein Rat: eine kleine Menge von dem Sand im Rezeptor bestimmen, dabei nicht vergessen, den gleichen Faktor einzugeben; dann das ganze Zimmer, jeden Winkel, jede Fläche, wo sich Sand abgelagert hat, sorgfältig scannen, nochmals kontrollieren und dann, wohl gemerkt erst dann den Auslöser betätigen. Er öffnet einen Koffer, zeigt auf einen metallisch glänzenden Apparat. „Mein neues Empfangsgerät, arbeitet noch genauer.“ Ich folge seinen Anweisungen, kratze eine kleine Menge Sand vom Teppich und gebe ihn in meinen Rezeptor, bestimme den Faktor, scanne den Raum, drücke den Auslöser und - liege auf der Nase: Es hat mir den Teppich unter den Füßen weg gezogen. Die Sandschicht breitet sich unverändert auf den Möbeln aus, nur der Fußboden ist einigermaßen sauber. Keine Spur mehr vom rostroten Teppich. „Idiot! Du solltest mir Sand schicken und nicht deine Wohnungseinrichtung!“ Das ist die leicht gereizte Stimme Onkel Baldurs, der ein Pfund Sand aus meinem Teppich klopft. „Offenbar hast Du einige Teppichfasern mit dem Sand in die Bestimmungsbox gegeben.“

„Darf ich dir den restlichen Sand nachschicken? Jenny wird zur Furie, wenn ich das Zimmer nicht aufräume.“

„Untersteh dich! Schick ihn meinetwegen auf den Kaulberg, aber nicht zu mir. Den Teppich kriegst du später zurück. Ich sag's ja: Der heutigen Jugend fehlt es an Achtsamkeit. Immer drauflos, ohne nachzudenken“, und legt auf. Bevor der Monitor verdunkelt, sehe ich ihn breit grinsen. Er scheint mir nicht richtig böse zu sein, und irgendwie hat unser Experiment geklappt. Den restlichen Sand - eigentlich der Löwenanteil - scanne ich sorgfältig, achte darauf, dass sich die Probe nicht mit anderen Materialien vermischt und schicke ihn Richtung Kaulberg.

Zeitungsmeldung vom folgenden Tag:

Rätselhafter Sandsturm über dem Kaulberg.

Gegen 18:00 Uhr wurde ein Anwohner, der seinen Hund Gassi führte, zum Ziel einer Sandattacke unbekannter Herkunft. Wie unserer Redaktion berichtet, erblickte er über sich eine rasend schnell rotierende Wolke, aus der sich über ihn und seinen Hund wenig später einige Kilo feinsten Sands ergossen. Glücklicherweise blieben beide unverletzt.

Aus einer Zeitungsmeldung der folgenden Woche:

Die Herkunft der Sandattacke auf dem Kaulberg, von der wir in unserer Samstagsausgabe berichteten, ist geklärt. Wie eine Materialanalyse bewies, handelt es sich um feinen Saharasand, wie er bei außergewöhnlichen Witterungsverhältnissen bis nach Mitteleuropa gelangen kann. Da solche Wetterlagen derzeit nicht vorherrschen, gibt der Vorfall allerdings weiter Rätsel auf.

Wir haben es beide gelesen und halten den Mund. Nur meine Eltern schauen mich immer wieder seltsam an, vor allem, nachdem Jenny nach knapp zwei Stunden mein Zimmer perfekt aufgeräumt fand und ich ihr weder zum verschwundenen Sand noch zum verschwundenen Teppich eine vernünftige Erklärung liefern konnte.

„Gib's zu, das war Baldur“, das Erste, was mein Vater dazu sagt. „Nein,“ sage ich lammfromm und ertrage seinen Blick. „Ehrlich. Nicht gelogen.“ Sein Kommentar: „Wenn nicht gelogen, dann sophistisch getrickst.“ Er dreht sich um und geht nach einem langen, nachdenklichen Blick. Sophistisch? Natürlich habe ich das Wort gegoogelt und heraus gefunden, dass die Sophisten eine Denkschule aus dem antiken Griechenland sind. Mit dem Anschein von Logik schaffen sie es, anderen ein X für ein U vorzumachen nach dem Muster: Alle Katzen sind sterblich. Sokrates ist gestorben. Also: Sokrates war eine Katze. Ob er meinen echt sophistischen Trick erraten hat? Egal. Eines weiß ich: Von nun an wird er mich beobachten.

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