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Alles gelogen I. von Stein und Eisen (20)


Aufnahme von Onkel Baldurs wichtigsten Erfindungen (von links nach rechts): Materiezertrümmerer, Transporter, Dublikator und Neutralisator, die alle das sie umgebende Licht schlucken. Artur

20. Kapitel

"Wir schaffen das!“

Zitat Deutschland Spätsommer 2015

„Auf die Rettung der Welt!“ Wir stehen in Onkel Baldurs Esszimmer und stoßen auf den Erfolg an. Isa und ich mit Cola, die anderen mit einem französischen Rotwein. Premier grand cru classé steht drauf, da lässt sich der Onkel nicht lumpen. Der erste Probelauf hat geklappt. Keines der Geräte ist explodiert oder beschädigt. Zumindest äußerlich nicht. Trotzdem hat das neue Gerät den größtmöglichen Schaden angerichtet, sagt der Onkel, genau das, was wir brauchen. Was ist passiert, dass wir uns an diesem trüben Novembertag in ausgelassener Stimmung befinden? Uns umarmen und zuprosten? Wir erinnern uns:

Es hat mehrere Tage gedauert, bis Baldur die Daten aus dem geheimnisvollen Brief entschlüsseln und in seinen 3D-Drucker eingeben konnte. Danach zwei Tage, bis ein erster Prototyp entstanden war, ein weiterer Tag, bis er mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden war. Dabei rauchte ihm buchstäblich der Kopf. Zitternd vor Ungeduld haben wir seine Anstrengungen verfolgt; denn draußen führen die Parasiten ihr Zerstörungswerk fort: täglich neue Hiobsbotschaften, Wasser- und Stromversorgung funktionieren unregelmäßig, der Flugverkehr ist seit einigen Tagen zum Erliegen gekommen. Die Versorgung mit gewohnten Gütern hakt überall. Der Grund: Wir können uns nicht mehr auf unsere Computer verlassen, die unser Leben erleichtert und uns gleichzeitig abhängig gemacht haben. Höchste Zeit, das Steuer umzulegen. Sagt Theo. Sagt auch Jenny. „Wir schaffen das!“ sagt der Onkel.

Und was sagte Benni bei unserem nächsten Besuch am Krankenbett? Wenn ich wieder gesund bin, gehe ich zum Bund Naturschutz.“ Da blieb uns die Spucke weg.

Bennis Verwandlung zum Naturapostel hat sich schnell herum gesprochen, nachdem ein Journalist unserer Tageszeitung ihn am Krankenbett interviewte.

Amseln lauschen – ein hoffnungsvoller Ansatz ? die Schlagzeile zu seinem Bericht, in dem er fragt, ob wir nicht zu den falschen Mitteln greifen, wenn wir die Auswüchse unserer technischen Zivilsation mit eben dieser Technik bekämpfen. Das heiße Öl ins Feuer gießen, und man erreiche genau das Gegenteil. Die Krise erfordere ein neues Denken. Ein Lichtblick nach den Horrormeldungen der letzten Wochen fanden die meisten Leser und fingen an, sich nicht nur für Amseln zu interessieren. Psychologen entwickeln seitdem zusammen mit Ärzten und Biologen Programme zur Naturbeobachtung. Hirnströme von Gesunden und Kranken werden verglichen, während man sie mit Vogelstimmen, Walgesängen und anderen Naturlauten beschallt. Man zählt die Parasiten nach jeder Naturbehandlung und stellt fest: Kein Zweifel, der Gesang der Amsel, stellvertretend für die neue Naturtherapie hat heilende Wirkung und selbst Demente erlangen einen Teil ihrer verschütteten Erinnerungen zurück.

Mit einer wesentlichen Einschränkung: Wo aus einem Großteil der Wälder die Singvögel verschwunden sind, um als Delikatesse für verwöhnte Gaumen zu enden oder um ein erbärmliches Leben in winzigen Käfigen zu führen, erlischt die heilende Wirkung.

In einer Länder übergreifenden Aktion und entsprechend alter buddhistischer Tradition - wie Theo erklärt – werden daraufhin Scharen von Singvögel freigelassen. Diesmal allerdings, ohne sie gleich wieder einzufangen. Die großen Delfinarien folgen dem Beispiel, und Seaworld entlässt seine Orcas in einer feierlichen Zeremonie ins offene Meer. Manch hoffnungsvoller Gesinnungswandel geschieht trotz dramatischer Versorgungsengpässe und Zusammenbrüchen der Infrastruktur.

„Kein Zweifel, Wir müssen Natur und Technik verbinden wenn wir die Katastrophe verhindern wollen“, sagt der Onkel. Was sagt er noch? „Kümmert ihr euch um eure Naturbeobachtung und Einfühlung; ich kümmere mich derweil um die Naturgesetze.“

„Vielleicht hat Marga recht damit, dass Gäa uns noch eine Chance geben will,“ sagt Jenny in einem nachdenklichen Augenblick.

Warum? Sie grinst. „Weil Benni, ausgerechnet unser Benni ihre Botschaft im Gesang der Amsel verstanden hat.“

Einfühlung in die Natur und Anwendung ihrer Gesetze, schließlich die Verschmelzung von beiden wird uns nach Baldurs Willen ins Ziel bringen.

Zum Probelauf sind alle Mitwisser geladen. Natürlich in sein Labor. Theo, Jenny, Isa und ich. Benni wäre sicher gerne dabei, aber vorige Woche haben sie ihn in eine Reha verlegt. Steht für Rehabilitation, Wiedereingliederung in die Gesellschaft, weil er immer noch nicht richtig tickt. Reha, das klingt, als wollte man einem Gangster nach 10 Jahren Knast nochmal 'ne Chance geben, richtiges Benehmen zu lernen, bevor man ihn wieder auf die Menschheit loslässt. Und ehrlich, benahm Benni mit seiner Zerstörungswut und wie er bei der geringsten Kleinigkeiten ausrastete sich nicht wie ein Gangster ?

Wäre er heute dabei und bekäme einen Rückfall, was nach Meinung der Ärzte nicht auszuschließen ist: Er könnte den Probelauf stören oder sogar vermasseln. Eine unvorstellbare Katastrophe, die es zu verhindern gilt. Darum und nur darum ist Benni nicht dabei.

Baldur hat es sich nicht nehmen lassen, uns in seiner selbstfahrende Limousine abzuholen. Er hat uns durch sich automatisch öffnende Tore und Türen ins Haus und hinunter in sein Labor geleitet. Alle Sicherheitssysteme hat er für einige Minuten ausgeschaltet, damit wir nicht versehentlich einen Alarm auslösen. Und da sind wir. Im Allerheiligsten seiner Wissenschaft. Auf dem Tisch in der Mitte des Raums steht einer von Baldurs Mauerspechten, tiefschwarz, als würde er das Licht verschlucken. Was er wohl tut.

„Aufgepasst! Ich teste seine Funktionen.“ Er nimmt einen Krug ohne Henkel vom Regal, „lohnt nicht, auf den nächsten Polterabend zu warten“. Er rückt ihn vor die Zielerfassung, schiebt einen Regler nach links, fast bis zum Anschlag: „Für das bisschen Porzellan reicht minimale Energie“, und drückte den Auslöser. Es folgt das bekannte Spiel: wie von unsichtbaren Geistern bearbeitet, bedeckt ein feines Netz von Rissen den Krug und im nächsten Augenblick liegt, wo gerade noch der Krug stand, eine Mischung aus winzigen Scherben und Staub.

„Nicht schade drum“ sagt der Onkel, „Vor allem es hat funktioniert. Ein perfekter Apparat, mein Mauerspecht. Jetzt setzen wir den Neutralisator ein und sehen, was passiert.“ Gespannt sehen wir zu, wie der Onkel sich zum Schrank neben dem 3D-Drucker wendet, eine Zahlenkombination eingibt und zur Seite tritt. Die Tür schwingt auf und mit vorgestreckten Köpfen starren wir ins Innere. Der Onkel reibt sich die Hände, Triumph im Blick: „Glotzt nur und staunt. Vor euch seht ihr den ultimativen Retter unserer Zivilisation.“

„Für einen ultimativen Retter sieht das Ding ziemlich bescheiden aus, wie ein alter Diaprojektor“, wage ich zu sagen und erhalte prompt meine Quittung: „Hat man Töne? Da ist das Schäfchen noch feucht in der Wolle und blökt seinen Meister an.“ Er langt in das Schrankfach und entnimmt einen silbrig glänzenden Kasten mit zwei Kippschaltern auf der einen und einer Art Objektiv auf der anderen Seite. Ich kann mir nicht helfen, das Ding sieht wirklich aus wie ein altertümlicher Diaprojektor. Der Onkel bemerkt unsere zweifelnden Mienen.

„Artur hat recht mit dem Diaprojektor“, sagt er. Ich habe dem Apparat absichtlich ein altmodisches Kleid verpasst, um Diebe zu täuschen. Unter der harmlosen Hülle steckt eine unglaubliche Technik, selbst für mich kaum fassbar, obwohl ich seit kurzer Zeit dazu forsche.“ Wir sind fassungslos. Unser Genie gibt zu, dass eine Erfindung seinen derzeitigen Wissensstand übersteigt.

Theo nach einer längeren Pause: „Verstehst du wenigstens, was du gebaut hast?“

Jenny kämpferisch: „Du sprengst uns hoffentlich nicht in die Luft. Wäre nicht der erste Unfall beim Experimentieren mit unbekanntem Material.“

Baldur überlegen: „Unglaublich ist die Technik nur für normale Zeitgenossen. Ich sagte doch, dass ich dabei bin, mich in die Materie einzuarbeiten.“

Wir haben's begriffen. Wir sind die Normalos und mit Baldur streiten ist zwecklos.

Er hat nicht mit Widerspruch gerechnet, schraubt bereits an dem Objektiv und richtet es auf den Mauerspecht.

„Drückt mir die Daumen, dass die Plackerei der letzten Wochen nicht umsonst war.“ Er greift nach einer Tasse – „seht die gekreuzten Schwerter; ein wertvolles Einzelstück“- plaziert sie sorgfältig dort, wo sich eben noch der Krug befunden hat, und betätigt nacheinander die beiden Kippschalter. Wir halten den Atem an. Er wird doch nicht sein kostbares Meissner Porzellan für den Versuch opfern.

Nichts, keine Explosion, kein Summen oder Brummen, keine Lichterscheinung. Beide Apparate stehen unbeweglich, unverändert. Zwischen ihnen unversehrt die Tasse aus feinstem Meissner Porzellan. Ich bin enttäuscht.

„Das war's,“ sagt der Onkel und scheint zufrieden. Keinesfalls enttäuscht.

Er guckt auf eine Art Smartphon, das er mit dem Neutralisator verbunden hat, schaut auf und in unsere gespannten Gesichter: „Spielt sich alles im Hyperraum ab, Spuren in unserer dreidimensionalen Welt lassen sich nur mit spezialer Technik verfolgen.“

Er räumt den Neutralisator zurück in den Schrank, nimmt eine henkellose Kaffeetasse aus dem Regal und stellt sie vor den Materiezertrümmerer. Brummt: „Ein halber Meter Abstand dürfte reichen; ich gebe genug Energie ein, um den Nürnberger Bahnhof mit sämtlichen Gleisanlagen in den Hyperraum zu blasen.“

Zu mir: „Na, Artur, willst du die schöne alte Tasse aus unserem Universum fegen?“

Ich will. Baldur zeigt auf den Auslöser: „Los, mein Junge! Keine Angst und denk an die erste Mondlandung: ein kleiner Schritt für dich, aber ein großer für die Menschheit.“

„Ich schreie „volles Rohr“, presse mit aller Kraft den Auslöser und erwarte, wenn nicht den Weltuntergang zumindest ein kleines Erdbeben. Wieder nichts. Die Tasse ist keine Spur kaputter, als sie vorher war. „Bravo“ ruft der Onkel, als hätte ich wer weiß was Großartiges geleistet. „Jetzt greifen wir ein größeres Objekt an. Er blickt sich im Raum um. „Vielleicht diese tragende Wand. Wenn sie bricht, könnte das ganze Haus zusammen fallen. Dafür steigere ich nochmal die Energiezufuhr.“ Ehe wir ihn hindern können, setzt er sein selbstmörderisches Vorhaben in die Tat um, und wieder passiert NICHTS. Wie er uns erklärt, neutralisiert das Gerät die Energie und leitet sie in den Hyperraum ab. Voll krasses Verfahren. Aber noch bleiben einige Zweifel. Theo meldet sich und sagt, was wir denken: „Bei allem Respekt Baldur. Willst du mit dem Neutralisator sämtliche Mauerspechte weltweit ausschalten? Selbst wenn du ihn vervielfältigst, die anderen haben einen zu großen Vorsprung. Den können wir unmöglich aufholen, selbst wenn wir Tag und Nacht auf allen Kontinenten arbeiten.“ Baldur sagt, er habe daran gedacht und eine Methode entwickelt, wie sämtliche Mauerspechte auf einen Schlag zu neutralisieren seien. Dabei zeigt er nach oben zur Kellerdecke. Wir folgen seinem Fingerzeig und sehen wieder NICHTS. Will er den lieben Gott anrufen? Das sähe unserem ungläubigen Onkel nicht ähnlich. Jenny wird ungeduldig: Schluss mit der Geheimniskrämerei Schwager. Leg gefälligst deine Karten auf den Tisch.“

Das macht er in den nächsten 30 Minuten, und wir sind schwer beeindruckt. Nicht die Kellerdecke, nicht den fernen Weltraum meint der Onkel. Er erinnert uns an die zahlreichen Satelliten, die in unterschiedlichen Bahnen die Erde umkreisen. Seit langem hat er Methoden ausgetüftelt, sich mit verschiedenen Botschaften Zugang zu verschaffen und die Technik zu manipulieren. „Habe ich beim Bau des Neutralisators berücksichtigt. So klein er ist, in ihm steckt eine Menge Satellitentechnik.“

Jenny: „Nun spuck's aus, wie gehst du praktisch vor?“

Baldur: Liegt doch auf der Hand, liebe Schwägerin. Ich habe bereits Radio- und Fernsehsatelliten ausgewählt, die mit der größten Reichweite über besiedeltem Gebiet, und bereite sie für den Empfang vor. Der Neutralisator sendet an diese Satelliten seine Botschaft, und diese leiten den Impuls weiter zu den einzelnen Materiezerstörern in ihrem Sendebereich. Alles auf einmal innerhalb weniger Sekunden, sodass sie keine Gegenwehr entwickeln können.“ „Genial“, sage ich. „Genial“, sagt Theo. „Wir schaffen das“, sagt Jenny und haut ihm kräftig auf die Schulter. „Das weiß ich“, sagt der Onkel. „Warum nicht gleich?“, fragen wir wie aus einem Mund. Aber er erklärt uns, er müsse noch einige letzte Einstellungen vornehmen. Kein Fehler darf passieren, der die Gegenkräfte auf den Plan rufen würde. Die Terroristen seien hochqualifizierte Leute und viele davon mächtig intelligent. Die Natur mit ihren Parasiten sowieso. Außerdem, wer um sein Überleben kämpft, kann keine Rücksicht nehmen. Er beschreibt uns die Natur als eine blinde und gleichzeitig zielgerichtete Intelligenz, die mit allem was lebt experimentiert, auch mit uns – und es bei Untauglichkeit zerstört. Bei dem Gedanken gruselt mir. Ich frage. „Warum müssen wir die Natur bekämpfen, können wir uns nicht mit ihr vertragen?“ Der Onkel schaut mich mitleidig an: „Schön wär's; aber im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir überleben wollen. Es ist wie mit einem Tigerschützer. Sollte ihn ein leibhaftiger Tiger angreifen, wird er sich verteidigen, auch wenn es den Tiger das Leben kostet. Als wahrer Tigerschützer müsste er gleichzeitig seinen ganzen Einfluss zur Rettung der Art einsetzen. Gilt übrigens für alle Tiere und Pflanzen. Es gibt weder Untiere noch Unkraut.“

„Nur Unmenschen“, kann ich mir nicht verkneifen. Was sagt der Onkel dazu?

„Wahr, wahr. Aber jetzt müssen wir uns wehren. Hoffentlich machen wir es danach besser. Ende der Diskussion. Für heute haben wir genug gearbeitet und uns eine kleine Erfrischung verdient“.

Die Erfrischung erweist sich als ein richtiges Buffet voller Leckereien, dazu Säfte, Cola und Wein zum Anstoßen.

Jenny fragt: „Lieber Schwager, bisher ist ja alles gut gegangen mit dem neuen Apparat, und wir haben uns das Buffet redlich verdient. Aber was hättest du getan, wenn es schief gelaufen wäre?“ Der Onkel schaut sie verständnislos an.

„Es konnte nicht schief laufen. Jedenfalls bei mir nicht. Selbst wenn der Kampf noch ein oder zwei Monate dauern sollte. Wir schaffen das.“ Damit ist das Thema für ihn erledigt. Wir stürzen uns auf das Buffet, und ich denke die ganze Zeit: Sein Selbstbewusstsein möchte ich auch haben.


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