Alles gelogen I. von Stein und Eisen (15)
15. Kapitel
Perspektivenwechsel oder: So kann man sich irren.
Der Service in unseren Fliegern ist die Wucht. Benni und ich fressen uns durch die Speisekarte, bis uns übel wird, und Isa vergisst das übliche Gejammer über ihre Figur („ich bin ja sowas von fett“), schlägt ebenfalls zu, allerdings bei den vegetarischen Gerichten. AVM nennt Jenny es und lässt mich von ihrer Portion probieren. Riecht gut, schmeckt gut; dafür kann man tatsächlich auf Fleisch verzichten.
Als wir in Rochester landen, sind alle müde, aber guter Laune und optimistisch, was unsere Rettungsprogramme betrifft: Rettung von Bastis Gesundheit und nebenher Rettung der Welt.
I. Bericht Sergeant Myers: Rochester. Verkehrskontrolle Strecke 2nd street, Avalon Cove / Cascade Shores.
Well, hab' heute nachmittag eine ruhige Kugel geschoben,
dachte noch, keine besonderen Vorkommnisse, kein Unfall, keine Raser auf der 2nd street, drehte gerade meine letzte Runde vor Feierabend, da sah ich sie. Am Anfang Avalon cove: zuerst das Auto, ein hellgrüner Ford, parkte am Straßenrand, da wo man hinüber sehen kann zu den Cascade shores. Davor am Boden die beiden, ein Mann und eine Frau. Beide jung, nach erster Schätzung kaum 20 Jahre, Typ kaucasian, die Frau bewegungslos auf dem Rücken liegend, bewusstlos oder tot, der Mann über sie gebeugt, die Hände an ihrem Hals. Sah nach einem Gewaltverbrechen aus. Ich stoppe hinter dem Wagen, raus, meine Dienstwaffe gezogen, hin zu den beiden: „Freeze“! Und als der Typ sich von der Frau löst und hochblickt, ich würde sagen, nicht nur verwirrt; richtig in Panik hat er geblickt. ich korrigiere meine erste Schätzung. Der Kerl ist noch nicht volljährig, höchstens 18 Jahre. Auffällig der gehetzte panische Blick. Vielleicht auf Drogen. Sieht ganz nach einem Verbrechen aus Leidenschaft aus. Ich: „Hands up!“. Er gehorcht und ich dirigiere ihn zum Auto, parke ihn dort, wie bei Kontrolle verdächtiger Personen üblich. Nach vorn gebeugt, beide Hände auf das Auto gestützt, die Beine in Grätschstellung. Ich taste ihn nach verborgenen Waffen ab, muss dabei ständig seine Erklärungsversuche abschneiden („shut up“), wobei er den Kopf zu der am Boden liegenden Frau verdreht. Tot ist sie nicht. Hat inzwischen die Augen geöffnet und schaut zu uns hoch. Ohne meinen Blick von dem Knaben zu wenden, frage ich. „How are you, Madam? Hat er Ihnen etwas getan? Sie gewürgt?“
Sie schaut ein paar Sekunden , als hätte sie nicht richtig verstanden.
„Ich: „Did he hurt you?“.
Sie: „ No, he kissed me“, und dabei lächelt sie zu uns hoch wie im Kino: Happy End und Vorhang.
Vielmehr, sie versucht zu lächeln, und ich sehe sofort, es geht ihr nicht gut, und wetten möcht ich, sie ist mindestens fünf Jahre älter als er. Ich lasse mir seinen Ausweis geben, ein deutscher Ausweis. Sein Alter 16 Jahre, also richtig geschätzt. Er sagt, dass sie mit der Familie frisch aus Europa gekommen sind und im Hotel wohnen.
Ich zu der jungen Lady: „Can you drive back to your hotel?“
Sie schüttelt den Kopf, fühlt sich wohl noch zu schlecht.
Ich zu ihm: „Can you drive?“
Er: „Yes, a bit, she taught me.“ Well, ich bin den beiden mit meinem Dienstwagen zurück zum Hotel gefolgt. Da mussten wir seine Eltern erst aus dem Pool holen, um die Lage zu klären. Auf dem Zimmer erklärte der Junge in einem Gemisch aus deutsch und englisch, gestikulierte dabei heftig, zeigte auf die junge Dame und verdrehte dabei die Augen - wohl zur Demonstration einer Ohnmacht - , sprudelte deutsche Worte hervor wie „bewusstlos“ und „kein Atem fühlbar“, „Angst“, „Reanimation“, „Mund zu Mund Beatmung“. Seine Mutter, übrigens interessante Person mit feuerrotem Haar, nahm die Sache ziemlich cool auf: „So, so. Mund zu Mund Beatmung. Nennt man das jetzt so?“ Die junge Lady sagte nichts, blickte nur zu dem Jungen hinüber.
Erst als sein Vater sie fragte: „Stimmt das? It's true?“ öffnete sie den Mund: „I don't remember, what happened before. Er hat mich wachgeküsst."
"Oh boy! Beide haben die Frau angestarrt, erst ungläubig, dann grinsend. und zum Schluss haben sie gelacht. Und dem Jungen auf die Schulter geklopft: „Erschreckt uns nicht wieder so, ihr beiden“.
Zu mir: „Sorry officer. It seems we all are suffering from jet lag.“
Auch meine Meinung, selbst wenn die Frage kiss or not a kiss nicht eindeutig geklärt ist. Die Burschen heutzutage sind ja meistens Testosteron gesteuert. Wie die jungen Kampfstiere. Können ein schwaches Weib im Eifer schnell nieder strecken. Wenn ich so an meine jungen Jahre denke...
Mmh, Mabel wartet sicher auf mich. Habe ihr schon lange keinen richtigen Zungenkuss mehr verpasst. Mal sehen...
II. Janina Schindler, unter Kollegen und in der Familie bekannt als Katastrophen Jenny:
„Ich werd nicht recht schlau aus der Sache. Ist der Junge ein großer Volltrottel oder ein kleiner Schlawiner. Hat er eine Kussattacke gestartet, und sie ist in seinen Armen ohnmächtig geworden, diese halbe Portion, oder ist sie mir nichts dir nichts einfach umgefallen und er hat sich bei seinem Wiederbelebungsversuch nur dämlich angestellt. Wie sagte Renata? „Er hat mich wachgeküsst.“ So kann man das auch nennen. Mmmh... Ganz wie im Märchen. Renata sein Schneewittchen und Artur ihr Märchenprinz. Das fehlte uns noch. Seufz! Hoffen wir, der Jetlag ist schuld und gehn schlafen! Und zwar ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.“
III. Benni: „Absolut uncool. Immer wenn sie uns ins Bett schicken, passiert was Aufregendes. Artur von einem echten amerikanischen Cop verhaftet. Wie im Kino. Musste beide Hände vor sich aufs Auto legen, die Beine auseinander und sich nach Waffen, Drogen oder so filzen lassen. Mit vorgehaltenem Colt. Schade, dass der Cop ihm keine Handschellen angelegt hat. Das wäre eine Mega Vorstellung gewesen und hätte allen einen Schrecken eingejagt. Aber wiiiir mussten ja schlafen. Shit!“
IV. Isa. „Nun mach mal halblang, Artur hat niemandem etwas getan. Das musste dein Cop auch zugeben. Außerdem waren wir müde vom Flug wegen der Zeitverschiebung. Jetlag heißt das.“
V. Ich: höchste Zeit, dass ich zu Wort komme.
Ich, Artur Schindler, Sohn von Janina und Theodor Schindler, weiß, was wirklich passiert ist. Natürlich war ich müde nach dem Transatlantikflug, aber irgendwie aufgekratzt, und als mich Renata zu einer kleinen Spritztour auffordert, sage ich sofort Ja. Wer weiß, wann sich eine solche Gelegenheit wieder ergibt. Ich bin begeistert.
Der Onkel hat wie üblich an alles gedacht, über das Hotel einen Mietwagen bestellt, hellgrüner Ford mit Aircondition. Beim Landeanflug war uns die kleine Seelandschaft im Westen aufgefallen, und dahin will sie. Ich darf unter ihrer Aufsicht ans Steuer, wie wir es ein paar Mal in Ägypten geübt haben. In Amerika darf man das, auch wenn man erst 16 ist und noch keinen Führerschein hat. Wir brausen los, natürlich nicht schneller als erlaubt, biegen in die 2nd road ein, überqueren die Nord-Süd-Autobahn und fahren durch eine Vorortsiedlung. „Endlich raus aus der Stadt“, sagt sie, „bieg in die nächste Straße rechts ein, zu den Seen.“ Die nächste Straße heißt Avalon Cove Lane. König Artur und Avalon! Mein Herz macht einen Sprung. Hierher hat uns das Schicksal geführt. „Halt an!“ befiehlt sie nach den ersten 100 Metern, und ich gehorche, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man hier anhalten darf. Aber der Blick zum Wasser hinüber ist wirklich schön. „Steig aus und hilf mir aussteigen!“
Die Abendhitze trifft mich wie ein Schock. Aber, sage ich mir, manche mögen es heiß, und die ägyptische Prinzessin gehört offenbar dazu.
Da habe ich mich wohl verschätzt. Als ich die Tür zum Beifahrersitz öffne und ihr heraus helfe, lässt sie sich zurücksinken, direkt in meine Arme. Dieses Glücksgefühl. So unerwartet wie überwältigend. Einen Augenblick lang klammern wir uns aneinander, bevor sie zur Geraden zurückfindet. Mir ist schwindelig. Ich fühle meine Hände zittern und weiß nicht, wer von uns beiden sich mehr am anderen festgehalten hat. Meine rechte Hand sucht ihre Hand zu fassen und sie lässt es geschehen, während wir einige Schritte vor den Wagen treten und zur Sonne blicken. Eine rote Scheibe, so hängt sie über dem Horizont. Vom See nähern sich Wasservögel. Vielleicht Nonnengänse. Sie fliegen im Verbund über uns, rufen zu uns herunter. „Schwäne“, sagt Renata. Sie lässt meine Hand los. Mit einem tiefen Atemzug hebt sie beide Arme empor, als wollte sie nach oben antworten – und sackt neben mir zusammen. Das Ganze passiert wie in Zeitlupe, sie entgleitet mir, bevor ich sie fassen und halten kann. Sie liegt ausgestreckt auf dem Gras des Randstreifens. Auf dem Rücken, die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, schön wie Schneewittchen im gläsernen Sarg, denke ich unwillkürlich und verfluche mein Gehirn für diesen Gedanken, sinke vor ihr auf die Knie und suche mich an meinen Erste-Hilfekurs vom letzten Winter zu erinnern, gebe ihr leichte Klapse auf die Wangen, keine Reaktion, versuche ihren Atem zu horchen, mit zitternden Fingern ihre Halsschlagader zu tasten. Nichts. Vielleicht bin ich zu aufgeregt, vielleicht sind die Lebenszeichen vorhanden, aber zu schwach, um von mir bemerkt zu werden. Was hatte der Kursleiter bei einer Demonstration gesagt?
„Nichtstun aus Angst, einen Fehler zu machen, ist der größte Fehler. Wartet nicht. Tut was! Einen Notruf absetzen, Herzdruckmassage, Mund-zu-Mundbeatmung. Egal. Glotzt mich nicht an! Tut was!“
Damals habe ich die Puppe korrekt beatmet, wurde vom Kursleiter dafür gelobt, und jetzt beuge ich mich von der Seite über Renatas schweigendes Gesicht, um sie mit meinem lebendigen Atem zu versorgen. Komme in meinem Ungeschick halb auf ihr zu liegen, drücke ihr Kinn mit der Linken leicht nach unten, schließe ihre kühlen Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger umfasse ihre Lippen mit meinen und schicke ihr meinen Atem. Zähle bis drei, während ich meine Lippen von den ihren löse, dabei tief Atem hole, mich aufzurichten, den Druck von ihrem Brustkorb zu lösen suche, dann weitermachen will, bis..
„Please!“, ruft eine energische Stimme, oder ruft sie „Freeze!“? Für Nichtamerikaner nicht immer leicht zu unterscheiden. Mit fatalen Folgen, finde ich – für das Missverständnis sind Besucher schon von überängstlichen Hausbesitzern erschossen worden - und drehe vorsichtig den Kopf. Blicke auf die Dienstwaffe eines amerikanischen Streifenpolizisten. Ein richtiger Cop, wie wir ihn aus dem Kino kennen, schwarze Uniform, Waffengurt mit einem Arsenal von verschiedenen Hilfsmitteln zur vorläufigen oder ultimativen Ruhigstellung. Eines davon hält er mit beiden Händen auf mich gerichtet. Wahrscheinlich entsichert. Schaut dazu wild entschlossen. Da rührt man sich besser nicht, friert gleichsam in der Bewegung ein. Manche Cops sollen ja erst schießen, bevor sie fragen. Sein Wagen steht mit laufendem Motor nur wenige Meter vor uns. War ich so weggetreten, dass ich nichts bemerkt habe? Unglaublich.
Jetzt schreit er mich an. „Hands up!“ und winkt mir mit der Waffe, aufzustehen. Gar nicht so leicht. Ungelogen. Wer mir nicht glaubt, kann es mal probieren, aus der Bauchlage mit erhobenen Armen aufstehen. Vor allem, wenn ein wild entschlossener Cop einen mit der Waffe bedroht und die eigenen Beine bissfest gekochten Makkaroni gleichen. Mich hat die Angst wider Erwarten zu ungeahnter Höchstleistung angespornt. Da stehe ich und kann nicht anders. Aufgestanden ohne Zu-Hilfe-Nahme der Arme, die ich hoch über meinen Kopf halte, starte ich Erklärungsversuche vom Muster: „She is dying. Sie stirbt“, die er jedes Mal mit einem „shut up“ abschneidet. In einer solchen Situation empfiehlt sich, die Klappe zu halten, und so blicke ich flehentlich abwechselnd zu Renata und dem Typen, während ich seinen Anweisungen folge: mich mit gegrätschten Beinen nach vorne beugen, beide Hände gegen das Autodach stützen und mich nach verborgenen Waffen abtasten lassen.
Dabei schiele ich zu Renata herab - und blicke in ihre weit geöffneten Augen. Tot ist sie nicht, das sehe ich sofort.
Ihre Augen blicken zu mir hoch, nicht starr wie bei Toten üblich, eher mitleidig und ich möchte schwören, ein bisschen spöttisch. Jedenfalls hat sie den Mund zu einem feinen Lächeln verzogen. Jetzt bemerkt es auch der Cop.
„How are you Madam?“, fragt er überflüssigerweise und „did he hurt you?“ „No,“ sagt sie mit dem süßesten Lächeln, und dann kam der Hammer: „He kissed me.“
Da fiel dem Cop buchstäblich die Kinnlade herunter. Jetzt war es an ihm, abwechselnd zu Renata und zu mir zu blicken, jedes Mal mit, sagen wir mal, größerer Hochachtung. Ich kann mir vorstellen, was er dachte: Dies Bürschchen ist gewiss noch keine 18 und küsst so leidenschaftlich, dass die junge Dame vor ihm zu Boden geht. Wow!
Wir halfen ihr aufzustehen und weil sie immer noch von ihrer Ohnmacht mitgenommen war, ließ er mich den Wagen zum Hotel lenken. Meinen Pass hatte er natürlich kassiert und folgte uns mit seinem Dienstwagen. Meine Eltern fanden wir im Hotel-Pool, von Onkel Baldur keine Spur. Wahrscheinlich im Mayo Center, um seinen Arztfreund zu treffen.
Auf dem Zimmer wurde die Situation erstmal ungemütlich, und ich verhaspelte mich vor Aufregung mehrmals bei meiner deutsch-englischen Erklärung. Habe die Augen dramatisch verdreht, als ich ihren Ohnmachtsanfall schilderte, bis sie mir schließlich glaubten. Renata hat die ganze Zeit nichts gesagt, nur manchmal mit ihrem unergründlichen Lächeln zu mir herüber geschaut. Und dann kam der zweite Hammer.
Als sie meine Erklärung mit der Reanimation bestätigen sollte, sagte sie:
"I don't remember. Er hat mich wachgeküsst.“ Wie der Prinz Dornröschen. Froh bin ich, dass mir der Cop keine Handschellen angelegt hatte. die baumelten nämlich an seinem Waffengurt, und wie Theo mir hinterher erklärte, hätte mir das auch passieren können. Vor allem wegen der missverständlichen Situation, in der wir überrascht wurden.
„Verbrechen aus Leidenschaft, versuchter Lustmord, wenn man diesem Cop glauben darf“. Natürlich meine Mutter. Sie stößt mir den Ellbogen in die Seite: „Mein Sohn, du bist durchschaut.“ Bei der Beurteilung des Falls hat sie mal wieder den Vogel abgeschossen.
Beim Abschied gab der Cop mir übrigens die Hand und murmelte dabei:
„Only 16...“