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IV. Zwischen Daseinsfreude und Todesgewissheit.

1.Wer Sophie Scholl die letzten Tage gesehen hat, erinnert sich vielleicht an eine Schlüsselszene.

Die Mitglieder der Weißen Rose waren in der Gerichtsverhandlung unter Vorsitz des geifernden Freisler zum Tode verurteilt worden (Nb. Hitler hatte kurz nach der Machtergreifung 20 Guillotinen bestellt...) und die junge Sophie Scholl (gerade 21 Jahre) bewies bei der Urteilsverkündung Haltung,

Zurück in der Zelle erfährt sie, dass die Hinrichtung am gleichen Nachmittag stattfinden wird und nicht, wie sie glaubt, nach einer im Rechtsstaat üblichen Prozedur von Widerspruch, Ablehnung, Gnadengesuch und möglicher Wiederaufnahme des Verfahrens, Zeit zumindest, sich in das Unvermeidliche zu fügen (in den USA warten einige Todeskandidaten seit 30 Jahren auf ihre Hinrichtung). Da bricht sie zusammen. Der Tod ist kein theoretisches Schicksal mehr, das an irgendeinem Punkt auf der Zeitgeraden auf sie wartet, sondern ihr hic und nunc. Die Nachmittagssonne scheint ihr zum letzten Mal, und da ist kein Entkommen. Ob ihr Zusammenbruch geschichtlich belegt ist, weiß ich nicht; filmisch hat er mich erschüttert, mich und einen großen Teil des Publikums, wie den unterdrückten Schluchzern zu entnehmen war.

Der Tod gilt ja als der große Entwerter von allem, was uns und unser Leben ausmacht. Auf dem Totenschein des Stammbuchs fehlt zum Beispiel der Doktortitel, den zu erarbeiten Jahre des Studierens kostete. Für mich ein Schock, als ich den Totenschein meines Mannes erhielt: vorher Dr. phil. Friedrich Ruff jetzt nur Ernst Johann Friedrich Ruff, immerhin mit der gesammelten Liste der Vornamen. Auch von der vergänglichen Schönheit des Körpers bleibt zum Schluss tatsächlich nur Staub und irgendwann das Vergessen. Aber Sophie Scholl glaubte, dass ihr Tod einen Sinn hatte, auch wenn ihr Widerstand das Schicksal ihres Landes nicht änderte. Dass ihre Büste einmal die Walhalla bei Kehlheim zieren würde, vereint mit anderen Großen der deutschen Geistesgeschichte, vielleicht hätte es sie gefreut. Zeitzeugen berichten, dass Sophie Scholl mit großer Würde ihrer Hinrichtung entgegen ging. Es war kein Tiefpunkt, nicht das Ende, sondern die Erfüllung ihrer Existenz.

Nachtrag: Sophie Scholl - die letzten Tage erhielt im Gegensatz zu Das Leben der anderen nicht den Oscar als bester ausländischer Film. Zwei politische Entscheidungen.

Unser Selbstwertgefühl zwischen Daseinsfreude, Alter und Tod.

Auch wenn der Tod in Zeiten von Corona und erzwungener Quarantäne näher zu rücken scheint. Er

bleibt eigentümlich blass: eine statistische Größe, die nur die Bewohner von Altenheimen betreffen kann. Bis er uns trifft.

Aber bevor er uns trifft wird er - ganz Gentleman der alten Schule - dem Alter den Vortritt lassen, während die Krankheit ohne seine Erlaubnis an seiner Seite noch warten muss. Danke.

Mein Alter habe ich bis vor kurzem als eine Zahlenkombination ohne Realitätsbezug empfunden . Nicht mehr. Gefühlte Jugend, die mich zu Wanderreisen, einschließlich Trekkingurlaub in Nepal führte und die ich mir gern bestätigen ließ. Muster: Sie werden immer jünger. Nun ja, freundliche Schmeicheleien, gern gehört und halb geglaubt, vor allem seit mich Schmerzen in der linken Schulter quälen, die Beweglichkeit einschränken und nicht verschwinden wollen. Nicht dran denken, solang eine mich immer wieder überwältigende Daseinsfreude all die kleinen Schwächen aufwiegt, sei es auf Reisen, angesichts einer Gabe aus dem Füllhorn der Natur, vor einem Kunstwerk, den architektonischen Schönheiten meiner Stadt Görlitz oder allein in meiner kleinen Wohnung bei einem Glas Moselriesling: in Eins mit mir.

Dann freut mich sogar die goldfarbene Werbung mit dem Aufdruck: Ingrid das Glück ist mit dir, die ich deutlich sichtbar an die Wand geheftet habe.

Gewiss ein vergifteter Köder, der mich zur Teilnahme am umseitig beworbenen Glücksspiel verlocken will, und als schlauer Fisch (mein Sternbild) genieße ich den Köder, ohne den Haken zu schlucken: Keine Glücksspiele!

Haben wir solche Vergewisserungen unseres Selbst nötig? Ich schon, vor allem wenn von allen Seiten an meinem Selbstbewusstsein genagt wird: Zumutungen meines Bauprojekts mit damit verbundenen drei Prozessen- und immer wieder fühle ich, dass mir als Frau eine unverdient geringere Wertschätzung entgegen gebracht wird. Das kränkt, und Komplimente muss ich dann als vergiftete Köder betrachten, werde aggressiv, trumpfe auf und verheddere mich in den Widersprüchen meiner Persönlichkeit.

Eine Trotzreaktion.

Vielleicht auch eine leichte bipolare Störung mit Stimmungsschwankungen, die sich nur mit einem leichten Antidepressivum wie Mirtazapin glätten lassen. Ohne Mirtazapin kann das Gefühl der Zurücksetzung aufgrund von Geschlecht und Alter die Wucht einer Bombe entfalten, und das gefühlte Wissen, alt zu sein bricht mit einem Mal ungebremst über mich herein. So geschehn Ende letzten Jahres aufgrund dummer Zufälle. Wie soll ich es beschreiben? Die plötzlich über mich herein brechende Altersgewissheit des Vorbei war wie eine unmittelbar bevorstehende Hinrichtung gegen die ich mich mit Händen und Füßen zu wehren suchte. So ähnlich muss mein Mann sein Todesurteil "6 (!) Hirntumore mit Bronchialkarzinom" aufgenommen haben. Er bestellte prompt danach für 700 Euro besten Pfeifentabak, als wollte er dem Schicksal den Mittelfinger zeigen und rauchte weiter heftig, solange, bis er die Pfeife ohne Mundstück benutzen wollte, was keinem Pfeifenraucher mit Verstand passiert... Die tragische Fallhöhe des Intellektuellen und gleichzeitig der Augenblick, an dem Sisyphos mit bloßen Fäusten den Stein attackiert.

Ich habe es vorgezogen, mein beschädigtes Selbstwertgefühl an virtuellem Lob aus dem Internet aufzurichten, als da sind äußerst schmeichelhafte Anzeigen in "sich verlieben de."

z.B. Wow, Ingrid was für eine tolle Frau du bist! Weiß der Himmel woher diese jungen Männer um die 35 (!) meinen Namen mit e-mail Adresse haben... Jedenfalls werden die besten archiviert. Trost für trübe Stunden und ohne emotionale Verpflichtung. Zum Jahreswechsel ging es mir dank Mirtazapin wieder besser, in einer Gratulation zum 60. eines guten Bekannten konnte ich sogar über das Alter scherzen - und grobe Unhöflichkeiten verletzen mich nicht mehr.

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